Kapitel 11.

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Der Versammlungssaal hatte sich nicht verändert.

Dreißig Stühle, angeordnet in einem ordentlichen Kreis, schwaches Licht.

Der einzige Unterschied war nur, dass die meisten Stühle jetzt besetzt waren.

James setzte sich zu einem Jungen mit dunkelbraunen Locken, Ophelia neben ein Mädchen mit so dunklen Augen, dass sie schon schwarz erschienen.

Noctana zögerte kurz und setzte sich dann auf den Stuhl an Ophelias anderer Seite.

„Hey, du bist neu oder?" Noctana zuckte erschrocken zusammen, ein Mädchen mit sehr hellen blonden Haaren setzte sich neben sie und lächelte sie freundlich an: „Ich bin Lena!"

„Ich bin ... Noctana.", sagte Noctana. „Du bist die erste hier, die irgendwie lächelt."

Lena lachte leise: „Ja, es ist ziemlich furchtbar hier. Aber irgendwie sehe ich immer die Sonne! Übrigens gefällt mir dein Name."

„Noctana?! Ernsthaft?! Der ist furchtbar!", sagte Noctana.

„Er ist was besonderes. Tausende heißen Lena.", meinte Lena. „Aber wie viele Noctanas kennst du?!"

Jetzt lächelte auch Noctana. Ophelia hatte sie an Nebel erinnert, an dunkle Wolken. Aber Lena war wie der Sonnenschein, etwas helles hinter all diesen Wolken.

„Ihr seid alle pünktlich."

Schlagartig verschwand die Sonne aus Lenas Augen, es war als würde sich ein Schatten über das helle Blau legen.

Die Spielleiterin trat aus ihrem Büro in den Stuhlkreis, lächelte alle von ihnen nacheinander auf ihre teuflische Art an.

Lenas rechte Hand krampfte sich immer wieder unkontrolliert zusammen, Noctana sah, dass Ophelia sich wieder auf die Lippe biss und den angespannten Blick auf den Boden senkte.

Die meisten fingen an zu zittern, irgendjemand atmete laut und zitternd ein.
Aber niemand sagte etwas.

„Das Spiel beginnt heute. Endlich hat euer gespanntes Warten ein Ende!", verkündete die Spielleiterin. „Wie ihr wisst haben wir verschiedene Rollen. Ich werde euch nicht den Spaß verderben, indem ich euch die Rollen alle vorstelle, aber ich werde euch immer mal wieder ein paar erklären. Zunächst muss ich sagen, dass einige Rollen gestrichen wurden. Ihr Verhalten lief in den letzten Runden aus dem Ruder und wir wollen doch ordentlich spielen.

Also fangen wir an – ich erkläre euch heute zwei Rollen. Als erstes: Den Märtyrer."

Ophelia ließ ihren Blick durch die Runde schweifen, Noctana tat es ihr gleich – aber sie sah nur viele zitternde Jugendliche. Wer sollte der Märtyrer sein?

Konnte man das überhaupt erkennen?

„Des Märtyrers Kraft ist die Opferung. Wenn jemand stirbt, kann sich der Märtyrer für ihn ins Grab legen und den Toten zurück ins Spiel holen."

„Hier werden Tote erweckt.", murmelte Noctana so leise, dass nur sie und vielleicht noch Lena und Ophelia ihre Worte hören konnten.

„Es gibt einen einzigen Märtyrer, seine Kräfte kann er nur ein einziges mal einsetzen. Und das erst am Morgen.

Die meisten Rollen werden nachts aktiviert, aber der Märtyrer ist eine der Ausnahmen. Morgens, wenn die Opfer gesichtet wurden, muss er sich nur dafür entscheiden, den Platz einzunehmen und das Opfer kehrt zurück.

Er muss sehr weise sein, die Entscheidung sollte er gut überdenken!

Denn wenn er den Falschen zurück holt, könnte das schwere Folgen haben." Die Spielleiterin lächelte, sah wieder alle nacheinander an, bevor sie fortfuhr.

„Hat jemand eine Frage, zu der Rolle des Märtyrers?"

Der Junge neben James hob die Hand.

„Wyatt.", sagte die Spielleiterin. „Bitte."

„Kennen dann alle die Karte des Toten? Also, kennen alle seine Rolle, selbst wenn er zurück im Leben ist?"

„Nein.", antworte die Spielleiterin. „Wir wollen nicht dass das Spiel zu offensichtlich wird. Weitere Fragen?"

Niemand meldete sich.

„Gut. Dann die nächste Rolle: Der Engel.

Ein zauberhafter Name, nicht wahr? So rein, so wahrhaftig. Der Engel wacht frühmorgens auf, wenn alle anderen noch schlafen und sieht sich die Opfer der Nacht an.

Zwei mal kann er sie alle wieder auferstehen lassen, das ist eine große Macht. Aber anders als der Märtyrer nimmt der Engel dabei keinerlei Schaden.

Wenn der Engel allerdings von der Versammlung angeklagt wird, verliert er sofort seine Kräfte. Fragen?" Lena hob den Arm.

"Lena, bitte.", sagte die Spielleiterin scharf, Lena fing unmerklich an zu zittern.

„Was für eine ... Versammlung?", fragte Lena mit zitternder Stimme.

„Oh, das wisst ihr noch gar nicht.", lachte die Spielleiterin. Noctana war überrascht: Ihr Lachen klang fast freundlich. Aber dann, als sie ganz langsam die Augen wieder aufschlug wurde das Lachen langsamer und erinnerte Noctana an das eines Horrorclowns, bis es schließlich ganz endete, in der Stille verschwand.

„Wir spielen das Spiel nicht nur in der Nacht. Jeden Nachmittag werden wir uns hier versammeln, um die Kraft der Demokratie walten zu lassen.

Wir werden gemeinsam ein Opfer suchen, das wir tot sehen wollen. Oder das zumindest die Mehrheit tot sehen will.

Ihr kennt einen Werwolf? Schlagt ihn vor, wir stimmen über sein Leben ab. Jeden Nachmittag werden drei von euch, von euren Mitstreitern ausgewählt, einer von euch wird in den Tod geschickt. Fragen?"

„Was ist, wenn wir niemanden töten wollen?", fragte das Mädchen neben Ophelia.

„Du hast vergessen aufzuzeigen, Manare.", zischte die Spielleiterin wütend. „Ihr redet, wenn ich es erlaube! Ist das für dich so schwierig zu verstehen?! Benutz bitte das Ding in deinem Kopf namens Gehirn!"

Manare zuckte zusammen, aber die Spielleiterin fing wieder an zu Lächeln: „Deine Frage?"

„Was ist, wenn wir ... niemanden auswählen wollen?"

„Nun, das ist eure Entscheidung. Es muss keine Toten am Nachmittag geben. Die Versammlung wird immer stattfinden: Wenn aber weniger als drei Personen ausgewählt werden, wird nicht abgestimmt.
Und wenn nicht abgestimmt wird, gibt es keine weiteren Toten."

Ophelia hob die Hand.

"Ophelia, bitte.", sagte die Spielleiterin so sanft, dass es schon fast wieder hart klang.

„Können der Engel oder der Märtyrer ... auch diese Toten retten?", fragte Ophelia, mehrere hoben die Köpfe ein wenig höher.

Zum ersten Mal verstand Noctana die Redewendung des "Ohren spitzens". Ihre Zimmermitbewohnerin hatte eine Frage gestellt, die viele zu interessieren schien, weshalb sich die Aufmerksamkeit all dieser Personen jetzt auf eine einzige Antwort richtete.

Sie alle hörten plötzlich mit einem noch stärker ausgeprägtem Interesse zu.

„Nein.", antwortete die Spielleiterin. „Die Entscheidung der ganzen Gemeinschaft ist nicht rückgängig zu machen."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now