Kapitel 56.

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Die Grenzen zwischen gut und böse würden verschwimmen – das hatte die Spielleiterin ihr gesagt und die Worte hatten sich in Noctanas Gedächtnis gebrannt wie ein Tattoo in weiche Haut.

Für sie war Sophie immer die Böse gewesen, Ophelia die Gute. 

Zumindest in gewisser Art.

Aber Ophelia hatte Sophie angegriffen.

Sophie hatte ihre Fassung verloren, als sie Luise gesehen hatte. Sie hatte geschrien, schließlich wie so oft schon zuvor mit Worten um sich geschossen.

Doch Ophelia hatte Sophie geschlagen. Das war unangebracht gewesen.

Es war böse gewesen.

„Noctana. Kommst du?", fragte Ophelias Stimme. 

Noctana drehte sich zu ihr um. Ophelia stand vor ihr auf dem Flur.

„Warum hast du das getan?", fragte Noctana mit zitternder Stimme. „Warum hast du das getan, Ophelia?! Sie war am Boden zerstört, sie war so unglaublich traurig und verzweifelt und du ... du hast sie attackiert!"

Ophelia seufzte: „Ich habe es eben erklärt."

„Vielleicht, aber ich verstehe es nicht! Ich meine, was war das bitte für eine Erklärung?! Ich-"

„Weißt du noch wie es war, als du den Bezug zur Realität verloren hast?", unterbrach Ophelia sie scharf. Noctana konnte nicht genau sagen, ob Ophelia wütend war. 

Zwar hätte sie mit ihrem Tonfall Messer schärfen können, doch zugleich war da dieses Glitzern in ihren Augen, das fast etwas bittendes hatte.

„Was? Wie-"

„Erinnerst du dich?"

Noctana nickte verwundert.

„Was habe ich getan? Als du abgedriftet bist, was habe ich getan? Oder besser gesagt, was tue ich, damit ich selbst-", Ophelias Stimme brach, aber sie fuhr fort als wäre nichts passiert. Dass das Zittern in ihrer Stimme und ihre aufgebrachten Handbewegungen weiterhin ihre Gefühle offenbarten, versuchte sie zu ignorieren. „damit ich selbst ... damit ich mich nicht selbst wieder aus der Realität verabschiede?"

„Du hast mich gehauen ... warte.", antwortete Noctana stirnrunzelnd. Ophelia kam näher auf sie zu: „Glaube nicht dem, was du siehst, Noctana. Es gibt keine „Wahrheit". Es wird nie eine "Wahrheit" geben. 

Nicht, wenn du nicht die nötigen Perspektiven kennst.

Vielleicht solltest du deshalb auch nicht immer deiner ersten Vorstellung trauen – dir wird es auf diese Weise nie gelingen, logisch zu denken. Zumindest nicht hier.

Bevor du also vorschnellige Schlüsse triffst, denk nach.

Und pass auf, dass du nicht daneben schießt. Jeder Denkfehler hier kann dein letzter sein."

„Das ist deine Meinung.", meinte Noctana.

Ophelia lächelte: „Ja. Das ist meine Denkweise."

Du verstehst gerade überhaupt nichts mehr, oder? fragte die Stimme in Noctanas Kopf höhnisch. Wäre die Stimme ein Mensch gewesen, hätte sie Popcorn essend vor ihr gesessen.

Nope, stimmte Noctana der Stimme nüchtern zu. 

„Tut mir leid. Ich vergaß – du denkst anders als ich.", sagte Ophelia, lächelte noch einmal und lief dann an Noctana vorbei zum Treppenabsatz.

„Das war beleidigend gemeint, oder?", fragte Noctana misstrauisch.

„Deine Worte, nicht meine.", erwiderte Ophelia.

„Hör auf damit."

„Womit?"

„Du bist wieder so weit weg.", meinte Noctana. Ophelia biss sich auf die Lippe, hielt ihr mittlerweile wieder emotionslose Lächeln aber weiterhin aufrecht: „Gehen wir zum Frühstück?"

Also gingen sie zum Frühstück, setzten sich an ihren üblichen Tisch, gegenüber von Sophie.

„Ich dachte schon, ihr wollt mich allein lassen.", sagte Sophie abwertend, musterte ihre Gegenüber kritisch.

„Du bist nicht allein.", meinte Ophelia fast freundlich.

„Sind wir das jemals?", fragte Sophie herausfordernd.

„Nein, wir haben immer noch uns.", meinte Manare. „Und sind Menschen nicht immer mehrere Persönlichkeiten?"

„Nicht direkt.", warf Ophelia ein, wollte zu einer eigenen Erklärung ansetzten, doch sie stockte als die Spielleiterin in den Raum trat.

„Ich wünsche einen guten Morgen. Wie ich sehe ist unsere Anzahl wieder geschrumpft. Mögen sie in Frieden ruhen -"

Oder in der Hölle schmoren. höhnte die Stimme in Noctanas Kopf, sie zuckte erschrocken zusammen.

„Doch euer Leben geht noch weiter.

Ihr müsst euer eigenes Ende finden, also fahren wir doch fort.

Das Frühstück wird heute ausfallen. Genau wie das Mittagessen, genau wie das Abendessen."

Die Spielleiterin betrachtete kurz die überraschten, geschockten Gesichter zufrieden, bevor sie fortfuhr: „Aber das heißt nicht, dass ihr hungern müsst.

Überall im Haus wurde Essen deponiert.

Noch ist alles Giftfrei.

Ihr könnt gleich alle gleichzeitig aus dem Raum rennen, euch auf die Suche nach dem Essen machen. Vielleicht gibt es genug für alle.

Es ist eure eigene Entscheidung: Mischt ihr einigen Portionen gewisse Substanzen bei, und ja, ich weiß, dass einige von euch so einiges bei sich horten, riskiert so das Leben der anderen und kommt eurem eigenen finalen Überleben einen Schritt näher, oder holt ihr euch alles was es gibt, lasst die anderen hungern und schwach werden.

Nehmt ihr euch nur so viel wie ihr braucht, damit andere die gleichen Chancen haben wie ihr, nehmt ihr euch gar nichts, weil euch euer Leben nichts mehr bedeutet? Ihr habt die Wahl."

Die Spielleiterin lächelte sie alle an, zeigte ihre hellen Zähne: „Macht euch bereit, meine Kinder."

Noctana zuckte bei dieser Anrede unwillkürlich zusammen, anderen schien es gleich zu gehen.

„Das Essen kann überall versteckt sein. Auf dem Dach, im Keller, im Flur, in euren Zimmern – ja, selbst in diesem Raum.

In meinem Büro ist nichts, das Betreten ist also wie üblich verboten."

Noctana sah zu Ophelia, aber die hatte ihren Blick fest auf die Tür zum Flur gerichtet.

„Ich bin gespannt, wie das hier ausgeht, das könnt ihr mir glauben. Wer von euch wohl heimlich einige der anderen verrät, um sich selbst zu sichern?

Nun, ich will euch nicht weiter aufhalten. Wie heißt es doch so schön?

Achtung.

Fertig.

Los."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now