Kapitel 79.

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Noctana konnte es nicht begreifen.
Sie hatte Ophelias Worte gehört. Sie hatte jeden einzelnen Buchstaben verstanden.
Und doch konnte sie es nicht begreifen.

Manare war doch eben noch bei ihnen gewesen! Mit ihren langen schwarzen Haaren, den dunklen Augen, mit -

Sie hörte ein leises Schluchzen und sah erschrocken zur Seite. Niemand weinte je vor den anderen im Lacrim Waisenhaus, nicht wahr?
Doch Nolan neben ihr liefen Tränen über die Wangen.

„Bist du dir sicher?", fragte Wyatt leise an Ophelia gewandt.

Ophelia nickte: „Oh ja, ich bin mir sicher."

„Wieso?", flüsterte Nolan.
Obwohl seine Stimme leiser war als die aller anderen, hörten sie sie doch alle. Das leiseste Flüstern bekam mehr Aufmerksamkeit als das lauteste Brüllen.

„Und wer hat Manare getötet?", fragte James, ohne auf Nolans Frage einzugehen.

„Wer wohl?!", entgegnete Ophelia aufgebracht. „Wenn ich mich recht erinnere, war es die Person, die sowieso Schuld an alldem hier ist!"

„Die Spielleiterin.", stellte Wyatt fest.

„Nochmal: Wieso?", wiederholte Nolan schluchzend. Noctana legte ihm unbeholfen einen Arm um die zitternden Schultern.

„Es gibt hier keine Gründe.", warf Sophie ein.

„Oh doch. Sie sind uns nur größtenteils unbekannt.", widersprach Ophelia.

„Ich habe dich fast vermisst, in der langen Zeit die du weg warst, so sehr habe ich mich an deine nervige Stimme gewöhnt, Ophelia!", meinte Sophie.

Ophelia zog die Augenbrauen hoch: „Tut mir leid. Ich hatte keine Zeit dazu, dich zu vermissen, ich war damit beschäftigt, eine meiner besten Freundinnen sterben zu sehen."

„Immerhin ist es bei dir erst eine!", rief Sophie wutentbrannt. „Du tust die ganze Zeit so, als hättest du das ganz schlimme Los gezogen, merkst du das eigentlich?! Alle von meinen Freundinnen sind tot, bei dir -"

„Erstens.", sagte Ophelia gefährlich leise. „Du hast Lena vergessen.
Zweitens werde ich garantiert nicht damit anfangen, unsere Verluste zu vergleichen! Wir alle hier haben genug durchgemacht.
Und das schon vor dem Lacrim Waisenhaus.
Du kennst die Geschichten der Leute vielleicht teilweise ab dem Moment, in dem sie dieses Haus betreten haben! Aber das Leben fing davor schon an, Sophie, hör auf das zu vergessen.
Das hier ist ein purer Albtraum, keine Frage, aber denk bitte an den Prolog.

Drittens: Jetzt gerade geht es nicht um dich. Es geht auch nicht um mich: Es geht darum, dass wir das hier beenden müssen. Darum, dass wir das Spiel abbrechen, das Waisenhaus zerstören und die Spielleiterin umbringen werden."

„Moment kurz: Du willst die Spielleiterin umbringen?! Keine Chance!", meinte Andrew, lachte kurz und verschränkte die Arme.

„Es gibt da möglicherweise etwas, was ich euch bisher nicht erzählt habe.", sagte Sophie zögernd. „Über ... das Spiel. Na ja, eher gesagt über eine Spielerin."

„Geht es vielleicht noch ein kleines bisschen genauer?", fragte James zweifelnd. Er vertraute Sophie nicht. Und Sophie wusste das auch.

„Es gibt da einen Brief.", fing Sophie schließlich langsam an. „Von einer alten Spielerin."

„Wer war sie?", fragte Ophelia.

„Ihre Rolle war die der Elster und sie wurde -"

„Von der Hexe getötet.", unterbrach Ophelia sie. „Was ist das für ein Brief?"

„Können wir bitte kurz darüber reden, wie gruselig es ist, dass du das weißt?!", meinte Sophie mit hochgezogenen Augenbrauen und sah sich nach Zustimmungen um. Es kamen keine. „Ehrlich, Ophelia! Du bekommst bald den Ehrentitel „Gedankenleserin". Oder „Gedankenseherin". Oder in Kurzform, „Seherin." Wäre das nicht cool?!"

Ophelia erstarrte, dann lachte sie bitter auf und Noctana sah nervös hin und her. War das gerade Zufall oder Absicht gewesen? Zutrauen würde sie Sophie beides.

„Du glaubst nicht, dass wir es schaffen, das Spiel zu beenden, oder?", fragte Ophelia.
Sophie lächelte als stumme Bestätigung und verschränkte die Arme.

„Ich kann dich verstehen. Ich hätte auch Angst, wenn Leute wüssten, wie böse ich wäre. Und wenn sie wüssten, wen ich alles umgebracht hätte. Tagsüber, meine ich.", sagte Ophelia bemüht beiläufig. „Aber wir weichen vom Thema ab: Was für ein Brief?"

„Nun.", sagte Sophie, die unmerklich angefangen hatte zu zittern, weshalb Noctana sich wirklich anfing zu wundern, was sie denn so schlimmes getan haben könnte. „Ich habe ja schon gesagt, von wem er war. Und ich glaube, es ging um den Abbruch des Spiels."

„Wo ist der Brief?", fragte Wyatt eindringlich. „Wir verschwenden hier gerade nur Zeit!"

„Ich kann ihn holen.", sagte Sophie. „Aber nur, wenn mir eine Sache fest versprochen wird."

„Was willst du, Sophie?", fragte Ophelia misstrauisch.

Sophie lächelte fast unmerklich, ihre Mundwinkel hoben sich höchstens einen Millimeter nach oben.

„Nehmen wir mal an, wir ziehen diesen Plan wirklich durch, obwohl wir jetzt schon quasi aufgeflogen sind ...", fing Sophie an und genoss es, jedes einzelne Wort betont langsam auszusprechen. „... dann will ich diejenige sein, die es am Ende tut. 

Ich will die Spielleiterin umbringen."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now