Kapitel 5.

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„Möchtest du es vielleicht öffnen?!", bemerkte die Spielleiterin, ließ den Satz mit einem Fragezeichen in der Luft hängen. Aber es klang nicht wie eine Frage.
Es war ein Befehl.

Sie schob das Etui näher zu Noctana. Die hob langsam eine ihrer zitternden Hände und nahm es.

Es war erstaunlich schwer, dafür, dass scheinbar nur eine einzige Karte drin war.

Noctana warf einen unsicheren Blick zu der Heimleiterin, die sie nur abwartend ansah und sonst keine Miene verzog.

Ihr Blick schien unergründlich. Deshalb atmete sie noch einmal tief durch und klappte den Deckel auf.

Die Karte war etwas kleiner als das Etui und ebenfalls quadratisch. Sie lag mit der Rückseite nach oben.

„Nimm sie heraus und sieh sie dir an.", meinte die Spielleiterin. „Ach und zeig sie am besten niemanden. Bei diesem Spiel solltest du niemandem mehr vertrauen. Außer mir natürlich, denn ich habe keine Rolle."

„Ist das überhaupt legal? Dass sie solche Spiele mit uns spielen?", fragte Noctana vorsichtig.

„Natürlich nicht.", meinte die Spielleiterin spöttisch und sah Noctana an als wäre sie nur eine lästige Vierjährige, die fragte warum Äpfel mal süß und mal sauer schmeckten. „Aber es besteht keine Gefahr. Ich nehme nicht mehr als dreißig Kinder auf, Mr Reginald kann das Spiel also nicht versehentlich unterbrechen.
Und wenn eure übersinnlichen Kräfte erst einmal ausgelöst werden ...", sie lachte kurz auf, aber es klang definitiv nicht fröhlich, „dann gibt es kein zurück mehr. Für keinen von euch. Außerdem macht es Spaß."

„Ihnen macht es also Spaß uns beim Sterben zuzusehen?", zischte Noctana, die mittlerweile anfing zu verstehen, was diese Frau ihr gerade alles mitgeteilt hatte. Sie klang mutiger als sie sich fühlte.

„Ja.", sagte die Leiterin nur kalt. „Jetzt guck dir deine Karte an."

„Was ist eigentlich mit dem Frühstück, das sie mir angeblich übergelassen haben?!"

„Oh, so läuft das immer. Das ist mein Standardspruch. Wenn es um Essen geht, ist Mr Reginald immer ganz schnell weg.", meinte die Spielleiterin und faltete die blassen Hände. Ihre Fingernägel hatten schwarze Ränder, aber sie wirkten fast wie aufgemalt, so perfekt waren die kleinen Halbkreise. „Die Karte."

Noctana schluckte und drehte die Karte langsam um.

Sie war in zwei Hälften geteilt. 

Die eine Seite hatte einen gelben Hintergrund, man sah ein einfach gezeichnetes Mädchen mit braunem Haar und schwarzen Augen. Sie trug ein blaues, schlichtes Kleid ohne jegliches Muster. Wäre es ein Bild in einem Kinderbuch gewesen, hätte sie gelächelt. Es wäre ein fröhliches Bild gewesen.

Aber sie lächelte nicht, sondern sah ernst ihre Betrachterin an, die Augenbrauen sorgenvoll zusammen gezogen. 

Noctana betrachtete die zweite Hälfte der Karte, auf der passenderweise auch die zweite Hälfte des Mädchenkörpers abgebildet war. Das rechte Auge war genauso schwarz wie das linke, aber die Haare schimmerten jetzt silbrig. Sowieso war alles auf dieser Seite schwarz weiß.
In der Ecke prangte keine Sonne mehr, sondern etwas hundeähnliches.

„Welche Rolle ist das?", versuchte es Noctana.

„Ich habe dir bereits gesagt, dass ich diese Fragen nicht beantworten werde. Aber einen Hinweis bekommst du trotzdem noch. Jedes gute Spiel hat doch einen Namen, nicht wahr?

Auch dieses hat einen. Wir nennen es "Werwolf".

Die Werwölfe sind diejenigen, die als die Bösen darstehen werden. Als die Mörder unter euch. Wenn ihr sie besiegt, hat die scheinbar "gute" Seite gewonnen.

Aber in den letzten beiden Runden standen immer die Werwölfe als die Sieger da. Zwar überlebten jedes mal nur noch wenige von ihnen, aber ein paar taten es immer. Von den anderen waren keine mehr übrig.

Mehr werde ich dir nicht sagen."

„Bin ... ich ein Werwolf?"

„Siehst du einen Werwolf auf deiner Karte?"

„Ja?"

„Der zählt nicht. Es geht um das Hauptmotiv. Ist es etwas menschliches oder etwas tierähnliches?"

„Menschliches."

„Dann kannst du deine Frage wohl selbst beantworten."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now