Kapitel 54.

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Der Schrei war gedämpft, aber doch drang er durch die Wände hindurch in alle Zimmer.

Noctana hob verschlafen den Kopf.

Ophelia stand sofort auf, lief zu der Zimmertür und legte die Hand auf die Klinke: „Kommst du?"

Noctana zog sich stöhnend die Decke über den Kopf.

„Es wird nicht helfen sich zu verstecken, denn es gibt hier keine Verstecke. Also komm."

„Warum hast du dann gefragt?", fragte Noctana genervt.

„Weil ich mich darin übe, die gleichen unnötigen Fragen wie die anderen dort draußen auch zu stellen."

Noctana seufzte, schob ihre Decke aber trotzdem zur Seite und setzte sich auf.

Ophelia stand immer noch an der Tür und wartete.

„Du kannst vor gehen.", meinte Noctana, als sie den angespannten, ungeduldigen Blick ihrer Zimmermitbewohnerin sah.

„Ich denke nicht, dass du jetzt gerade allein sein solltest.", erwiderte Ophelia.

„Du entscheidest gerne für andere Leute, oder?", murrte Noctana, wartete auf eine Antwort von Ophelia.

Doch die Antwort kam nicht.

Also bequemte sich Noctana dazu aufzustehen und folgte Ophelia auf den Flur.

„Kannst du langsamer laufen? Bitte?", fragte sie, als Ophelia überraschend schnell loslief.

„Ähm ... theoretisch gesehen ja. Praktisch nein."

„Kann es irgendwie sein, dass du heute schlechte Laune hast?!"

„Ja.", antwortete Ophelia, verlangsamte ihr Tempo nicht, bis sie dort stand, wo sich auch schon die meisten anderen versammelt hatten.

Auf dem Boden kniete ein weinender Nolan, ein anderer Junge hatte die Arme fest um ihn geschlungen.

„Die zweite Leiche haben wir noch nicht gefunden. Wir sollten die Zimmer abklappern, wenn wir nicht wieder so überrascht werden wollen.", meinte Wyatt an Ophelia gewandt, seine Augen waren gerötet, sein Blick voller Schmerz.

„Wer geht freiwillig?", fragte Sophie bissig. „Na, Ophelia? Willst du nicht gerne ein paar Leichen sehen?!"

„Kratz dir irgendwo Arsen von den Wänden und halt die Klappe.", antwortete Ophelia und folgte Wyatt den Flur hinunter.

James und einige andere gingen ihnen hinterher, Sophie nicht.

Noctana sah ihnen zweifelnd nach: Sollte sie auch mitgehen? Einerseits wusste sie nicht, wie sie es aufnehmen würde als erstes eine Leiche zu sehen, aber andererseits stand sie jetzt gerade auch nur zwischen einem weinenden Nolan und einer genervten Sophie.

„Wer ist eigentlich tot?", fragte Noctana schließlich in die Runde.

„Toby.", schluchzte Nolan.

„Sein Zimmernachbar.", ergänzte der Junge, der ihn immer noch im Arm hielt.

„Oh.", machte Noctana.

„Du kanntest ihn eh nicht.", flüsterte Nolan. „Niemand ... warum ER?! Warum ER?!"
„Irgendjemand ist es immer, Nor ... Nolan."

„Wie war Toby denn so?", fragte Noctana vorsichtig und kniete sich neben die beiden Jungs.

„Er war ...", Nolan atmete zitternd ein und aus. „Toby war ... lustig.

Sein Vater ist an Krebs gestorben, seine Mutter hat sich an Weihnachten umgebracht. Er persönlich hat sie gefunden.

Ich stelle es mir nicht besonders lustig vor, seine eigene Mutter tot unter dem Weihnachtsbaum liegen zu sehen.

Toby hat erzählt, dass sie nach dem Tod seines Vaters ziemlich depressiv geworden ist, aber sich nie Hilfe geholt hat ... und dann hat er sie da gefunden."

„Wie alt war er?", flüsterte Noctana.

„Als sein Vater gestorben ist war er sieben. Als er seine Mutter gefunden hat war er acht."

„Oh Gott.", murmelte Noctana, hinter ihrer Stirn pochte es und in ihren Augen spürte sie Tränen.

„Toby wurde danach in irgendein Waisenhaus gesteckt, aber niemand hat je mit ihm über das geredet, was ihm passiert ist. Sie haben ihn zwar eben genau deswegen behandelt wie ein rohes Ei, aber niemand hat auch nur versucht ... niemand hat sich getraut ihn darauf anzusprechen.

Toby wurde ziemlich einsam, fing an sich die Schuld an den Toden seiner Eltern zu geben und wurde ... na ja, sein Heimleiter war der Meinung, er wäre depressiv und dann hat die Spielleiterin ihn irgendwann kontaktiert, gemeint, hier im Lacrim Waisenhaus würde sie sich um Kinder wie ihn gut kümmern und der Heimleiter hat ihn abgegeben."

„Kamst du nach oder vor Toby an?". Noctana erkannte ihre eigene Stimme fast nicht mehr, sie war nur noch ein heiseres Flüstern.

Mittlerweile liefen ihr Tränen über die Wangen, aber sie wollte sie nicht wegwischen.
Es würde doch nichts bringen.

„Ich kam nach ihm an. Es dauerte lange, bis er sich mir so weit geöffnet hat. Genauer gesagt habe ich ihm ein paar Dinge über mich erzählt und dann hat er ... dann hat er angefangen zu reden.

Toby war lustig und nett und wir waren vielleicht keine besten Freunde, aber wir hatten immer dieses, dieses etwas. Dieses etwas, das fast niemand hier hat. Ich kann es nicht beschreiben, weil man es nicht beschreiben kann!

Aber ... ich wusste einfach, dass diese Sache zwischen Toby und mir nur für uns war, dass er immer da war und ... jetzt ist er weg.

Toby ist tot."

Noctana wendete den Blick von Nolan ab, sah zu Boden, spürte das Brennen in ihren Augen.

Sie hatte ein ihrer Meinung nach tolles Leben gehabt, bevor sie nach Millers Hollow gekommen war und automatisch angenommen, dass es bei den anderen ähnlich gewesen sein musste.

Aber ... war es bei den Anderen wirklich so wie bei ihr? Wie waren ihre Leben gewesen? Wie hatten sie ihre Eltern verloren?

Hatten sie Gründe zum Lachen gehabt, hatten sie Freunde?

Noctana war mit schönen Erinnerungen nach Lacrim gekommen, mit etwas, dass sie heftig vermisste.

Aber wie musste es für Leute wie Toby gewesen sein? Für Leute, die vielleicht absolut nichts schönes hatten woran sie sich festhalten konnten, sondern für die die Welt nur ein trostloser grauer Planet war? 

Und wie viele von ihnen gab es?

Wie viele von ihnen hätten so dringend Hilfe gebraucht und waren in einem Albtraum gelandet? Noctanas Gedanken fuhren Karussel, bis-

„Sophie.", es war die Stimme von Ophelia. „Sophie, wir haben die Tote gefunden."

„Warum sagst du es ausgerechnet mir zuerst?", fragte Sophie betont giftig, aber selbst Noctana hörte die Angst in ihrer Stimme.

„Weil es Luise ist."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now