Kapitel 1.

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Noctanas Eltern waren schon immer tot gewesen.

Zumindest, wenn die Zeitspanne ihres bisherigen Lebens als „immer" durchging.

Der Autogurt schnitt unangenehm in Noctanas Schulter, als sie durch das staubige Autofenster nach draußen sah, um sich davon abzuhalten, zu viel über ihre nie bei ihr gewesenen Eltern nachzudenken.

Die hellgrauen Wolken wurden immer dunkler. Obwohl es früh am morgen war, schien es so, als würde schon bald der Mond aufgehen.

„Sie sind in England, Ma'am. Da ist Regen was Normales!", meldete sich der Fahrer, der Noctanas verwirrte Blicke bemerkt hatte.

„Ich weiß. Ich komme aus England.", gab Noctana zurück. „Aber ... es ist so dunkel!"

„Sie kommen wohl aus dem Süden, was?! Hier in Millers Hollow ist es immer so!", sagte der Fahrer und lächelte Noctana im Autospiegel zu. Um seine kleinen blassen Augen zogen sich lauter Lachfältchen.

„Kommen Sie von hier?"

„Nee, eigentlich nicht. Ich wurde in der Nähe von London geboren, bin ein Sommerkind. Ich gehöre hier nicht her, wissen Sie. Aber ich musste schon häufig euch jungen Mädchen und Jungen ins Lacrim bringen.", antwortete der Fahrer. „Sie sollten übrigens langsam aussteigen, Ma'am."

„Sie können mich duzen. Ich bin erst vierzehn.", meinte Noctana.

„Nee, nee. Ich bin noch von der alten Generation. Bei uns wird gesiezt.", widersprach der Fahrer und öffnete die Autotür neben sich. Es klackte leise, als die Tür ruckartig aufschwang.

Noctana atmete tief durch: „Noch fünf Minuten. Bitte."

„Drei. Ich muss nach hause, es gibt heute Linsensuppe mit Wurst zu Mittag!", meinte der Fahrer und stieg aus. Die Autotür ließ er offen.

Noctana lehnte sich zurück, schloss die Augen. Hier war sie also. 

In Millers Hollow, wo die Wolken schon morgens dunkel wurden.

Eigentlich konnte sie es immer noch nicht wirklich fassen.

Noctana hatte in den vierzehn Jahren ihres Lebens in zwei Waisenhäusern gelebt. Ihre Mutter war wohl nach der Geburt gestorben und ihr Vater war damals unauffindbar gewesen.
Das hatte man ihr zumindest so gesagt, als sie alt genug gewesen war, um es zu verstehen.

Ihr erstes Waisenhaus war am Meer gewesen, aber als sie fünf wurde musste sie umziehen, weil dort nur Kleinkinder wohnten. 

Die nächsten neun Jahre lebte sie in dem schönsten zuhause, das sie sich vorstellen konnte. Zwar war es nicht mehr am Meer, aber sie fand dort Freunde, das Essen war gut und sie fühlte sich einfach nur rundum wohl.
Die anderen Kinder in ihrer Klasse bemitleideten sie, für die meisten war sie anfangs nur „Das Mädchen vom Waisenhaus".

Aber Noctana tat sich nicht selbst leid. Sie kannte es nicht anders und sie war glücklich. 
Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, mit Eltern zu leben.
Für Noctana war ihr Leben perfekt.

Und dann kam es – das Gespräch.
Das Waisenhaus war überfüllt und deshalb kam die Heimleiterin eines Abends nach dem Abendessen zu Noctana und redete mit ihr.

Sie lobte Noctana, lobte sie für ihre Hilfsbereitschaft und dafür, dass sie für alles so viel Verständnis hatte. Dann sagte sie, dass sie ausziehen müsste.

Nicht sofort, aber nach nur wenigen weiteren Wochen. 

Sie erzählte noch viel mehr, aber Noctana nahm nichts mehr war. Es war das erste mal, dass sie sich wünschte, Eltern zu haben. Nicht immer wieder die Familie wechseln zu müssen.

Aber sie sagte nichts, packte ein paar Tage später ihre Sachen zusammen und stieg gemeinsam mit der Heimleiterin in einen Bus, der sie in einen hübschen Vorort von London brachte.

Dort wartete dann Mr Reginald auf sie, der sie bis hier her gefahren hatte.

Bis zu dem Lacrim Waisenhaus, ihrem neuen Zuhause.

Mr Reginald klopfte leicht an die Scheibe, Noctana riss erschrocken die Augen auf, bevor sie langsam an dem Griff der Tür neben ihr zog und die Tür aufschwang.
Ihre Stiefel landeten laut platschend in dem braunen Matsch als sie heraussprang, aber sie verzog keine Miene, obwohl sie die Stiefel erst gestern gründlich geputzt hatte.

Noctana holte ihren Koffer aus dem Kofferraum und dann lief sie hinter dem Fahrer ein Stück des Hügels hoch, bis zu dem Metalltor.

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Die Kapitel werden wahrscheinlich so kurz bleiben, dafür gibt es vorraussichtlich öfter Updates.

Kurze Frage an alle die das gelesen haben: Wer von euch kennt das Kartenspiel Werwolf und somit auch die Funktion des Blinzelmädchens?

Und: danke fürs lesen :-)

Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt