Kapitel 50.

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Irgendwann hörte Noctana wie sich eine der Zimmertüren öffnete, drehte den Kopf und sah, wie Ophelia mit vergleichsweise schnellen Schritten auf sie zukam.

Ihr Blick war nicht abwesend wie in der letzten Nacht, sondern deutlich wachsamer.

Sie sah Noctana sofort.

„Was ist los?", flüsterte Ophelia besorgt, blieb an dem Treppenabsatz vor Noctana stehen. Das verschwommene grau in ihren Augen bildetete einen hellen Ring um ihre Pupille.

„Ich ... weiß nicht.", antwortete Noctana zerstreut.

Lügnerin, sagte die Stimme heiter, es fühlte sich an als würde sie mit ihren Fingernägeln an Noctanas Gehirn klopfen, so sanft, dass es ungeduldig wirkte. Es ist wegen mir, nicht wahr? Hörst du mich etwa schon wieder?

„Noctana!"

Nein, dachte Noctana. Nein, ich höre dich nicht.

Doch, tust du! Du wirst verrückt und du willst es nicht wahrhaben! Du gehst in die falsche Richtung, meine Liebe.

Nein, ich-

Etwas hartes prallte gegen ihre rechte Wange, Noctana zuckte erschrocken zurück: „Warum hast du mich gehauen?"

„Realitätsannäherung.",

„Ich mag deine Methoden nicht!", jammerte Noctana und fuhr sich über die Wange, erwartete für einen kurzen Moment eine Beule oder etwas ähnliches dort zu fühlen.
Aber ihre Finger streiften nur über ihre normale, zwar unreine, aber trotzdem einigermaßen glatte Haut. 

„Ich habe nicht besonders fest geschlagen!", verteidigte sich Ophelia.

„Ansichtssache.", murmelte Noctana, wollte noch etwas sagen; aber Ophelia fasste sich ganz plötzlich an den Hals, als hätte sie jemand gewürgt.
Aber Noctana sah niemanden, also konnte das nicht sein.

„Was-"

„Ich muss weiter.", sagte Ophelia mit gepresster Stimme, ihr Gesicht war immer noch schmerzverzerrt, in ihren Augen flackerte Panik. Noctana meinte fast, Tränen darin zu erkennen.

„Ophelia-"

„Wir sehen uns am Morgen.", unterbrach Ophelia sie, die Stimme voller Sorge. Ihre Hand lag immer noch auf ihrem Hals.

„Ophelia-", begann Noctana ein zweites mal. Was war hier nur los?
Konnte die Spielleiterin sich unsichtbar machen, schaffte es deshalb irgendwie Ophelias Hals zusammenzudrücken, oder war das alles hier nur Einbildung?

Ophelia jedenfalls ging ohne ein weiteres Wort an Noctana vorbei in den Flur der Jungs.

Ob sie nicht mehr sprechen mit ihr sprechen konnte oder einfach nicht wollte, wusste Noctana nicht.

.-.-.-.-.

Als Ophelia wieder zurücklief, lag ihre Stirn in Falten.

„Was hast du gesehen?", fragte Noctana, setzte sich aufrecht hin.

Ophelia winkte ab, kniff müde die Augen zusammen: „Erzähle ich dir ... morgen."

Ihre Stimme brach vor Müdigkeit, Ophelia fühlte sich als würden ihre Muskeln nur noch aus Pudding oder dem Haferbrei, den sie so hasste und trotzdem jeden Morgen herunterwürgte, bestehen.

Sie ging zitternd weiter, richtete den Blick auf die Klinke an ihrer Zimmertür, legte schließlich ihre rechte Hand darauf und drückte sie herunter.

Noctana wartete, bis die Tür mit einem eigentlich leisen, aber in der Nacht doch laut erscheinendem Klicken, zufiel.

Dann wandte sie ihren Blick wieder nach vorne, auf Raum null. Auf das Eisenschloss, das Holz.

Möchtest du aufs Dach? fragte die Stimme sanft.

Nein.

Warum betrachtest du dann die Tür so aufmerksam?

„Ich weiß es nicht.", flüsterte Noctana.

Oh

Noctana wandte und senkte den Kopf, als sie hörte, wie eine weitere Tür geöffnet wurde.

Ein, zwei vorsichtige Schritte ertönten, dann war es wieder still.

Noctana setzte sich neugierig auf, lugte hinter dem Treppenabsatz hervor.

Sie sah absolut nichts.

Also stand sie auf, lief in die Richtung aus der die Geräusche gekommen waren, drückte sich gegen eine der Wände.

Nähern wir uns wieder dem Tod? meinte die Stimme, der Tonfall in dem sie sprach triefte geradezu vor Spott. Sagtest du nicht, du würdest nicht sterben wollen?

Noctanas linke Hand zuckte, langsam fing sie an, die Person in dem Flur zu erkennen.

Es war Nolan, der Wächter.

Überlegte er, wen er schützen sollte?

Nolan drehte sich unschlüssig um sich selbst, erinnerte sich an Noctanas Worte.

Es war doch wirklich so: Die einzige Person, der er noch einigermaßen vertraute, war er selbst.

Also hob er zögernd die Arme, ließ seine eigene Zimmertür weiß aufleuchten.
Auch sein Körper schien dabei kurz von einer eigentlich nicht existenten Lampe weiß beleuchtet zu werden, überrascht betrachte Nolan seine Haut - dann erlosch das blendende Leuchten auch schon wieder.

Noctana spürte, wie ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen.

Nolan hatte auf ihren Rat gehört.

Vielleicht hatte sie es mit nur ihren Worten geschafft, ein Leben zu retten.
Oder aber sie hatte ein anderes in Gefahr gebracht.

Noctana hoffte inbrünstig, dass sie ersteres getan hatte.
Rückgängig zu machen war es jetzt jedenfalls nicht mehr - sie konnte nur noch abwarten.


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now