Kapitel 46.

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Tabea war nicht besonders groß, nur ihre Fußspitzen erreichten den Boden, und das auch nur knapp.

Sie saß möglichst aufrecht, den Rücken so gerade als wäre sie eine Soldatin.
Sie lehnte sich nicht an, dabei waren dieses mal nicht einmal Nägel auf der Stuhllehne zu sehen. 

Ihr Herz schlug gleichmäßig, aber laut.

Die Spielleiterin stellte sich ihr gegenüber, zog langsam schwarze Handschuhe über die langen dünnen Hände, als würde sie ihre Haut von dem bald fließenden Blut schützen wollen und zog ein vergleichsweise kleines Messer aus der Rocktasche.

Würde sie es werfen?

Tabea schloss die Augen.

„Öffne die Augen.", sagte die Spielleiterin barsch, aber Tabea kniff sie nur noch fester zusammen. Wenigstens auf dem Weg in den Tod wollte sie sich von niemandem mehr etwas sagen lassen müssen. Erst recht nicht von der Person die sie langsam zerstört hatte.

Tabea blieb stark; zumindest, bis die Stimme der Frau ein zweites mal in ihrem Kopf widerhallte.

Sie verscheuchte all ihre anderen Gedanken, zog an ihren Augenlidern wie unsichtbare Fäden.

Öffne die Augen.

Öffne.

Die.

Augen.

Nein, dachte Tabea, nein, NEIN!

Aber ihre, für ihre Verhältnisse, schon rebellische Gedanken gingen unter, etranken in dem Befehl der Spielleiterin, bis dieser Befehl zu ihrem eigenen wurde.

Ihre Augen öffneten sich, ihre Sicht klarte sich langsam.

„Ich weiß, es ist normal, dass Jugendliche gerne einmal rebellieren, aber du weißt doch, dass du sowieso nicht einmal den Ansatz einer Chance hast, Tabea.", die Spielleiterin hob das Messer, drehte es in ihren Fingern wie einen normalen Stock, wie andere Jugendliche es in der Schule aus langeweile mit ihren Bleistiften taten.

Das nächste, was Tabea hörte war ihr überraschtes Aufkeuchen.

Das nächste, was sie sah waren die überraschten, die geschockten Blicke der anderen. Sie alle waren auf sie gerichtet, auf das Blut, das aus ihrer Wunde floss.

Das nächste, was sie roch, war der durchdringende Geruch von Eisen.

Das nächste, was sie schmeckte war eine ekelhafte Mischung aus Blut und Galle. Es brannte in ihrer Kehle, füllte ihren Mund aus. Sie spuckte.

Das nächste was sie spürte, war, wie von hinten ein Messer in ihr Herz stach.

Das letzte was sie fühlte war dieser furchtbare Schmerz.

Traurigkeit.

Sie wartete auf die erwartete Erleichterung.

Aber sie kam nicht.

Sie starb – und der Tod hieß sie nicht freudig willkommen, wie sie angenommen hatte. 

Da war nicht die erwartete Freude.

Es war einfach nur alles vorbei.

Tabea war nicht bereit dazu gewesen zu sterben - und doch war sie tot. 

Die Leiche des Mädchens sackte auf dem Stuhl zusammen.
Die Spielleiterin lief zufrieden auf Tabea zu, zog ihren Körper von dem Stuhl.

In dem Holz steckte eine Klinge, verschmiert mit Blut.
Verschmiert mit Tabeas Blut.

Noctana spürte, wie jemand sie antippte.

„Noctana.", sagte Ophelias Stimme.

Dann hob sie jemand von dem Stuhl, zog sie hinunter wie die Spielleiterin Tabea.

Rechts sah sie die schwarzen Haare von Manare, von links drang die Stimme von Ophelia weiterhin in ihr Bewusstsein.

„Ophelia, halt verdammt noch mal endlich die Klappe!", fauchte Manares Stimme. 

Noctana blinzelte: „Wir können gehen, oder?"

„Ja.", sagte Manare und wendete sich an Ophelia. „Ich bringe sie in den Waschraum."
Dann sah Noctana die Treppe.

Sie knallte mit den Füßen gegen die Stufen, ob sie wohl herunterfallen würde?

Nein, sie war schon im ersten Stock.

Andere liefen an ihr vorbei, Manare zog sie weiter in den Waschraum.

Noctana sah einer zufallenden Tür beim Zufallen zu. Ihr Orientierungssinn hatte sich schon längst verabschiedet, jetzt verlor sie auch noch langsam ihr Gleichgewicht.

Noctana stolperte mittlerweile mehr, als dass sie lief.

Dann war dort eine weitere Tür ... drehte sich wirklich alles, oder war das wieder nur Einbildung?

Vermutlich Einbildung.

Wann hatte sie das letzte mal etwas Wasser getrunken? Beim Frühstück? Nein, sie hatte das Glas nicht angerührt ... oder?

Noctana wusste es nicht ... dann hörte sie Wasserrauschen. Das war ja mal ein Zufall!

„Noctana, hey!", sagte Manare scharf, formte Noctanas Hände zu einer Schale, hielt sie unter den Wasserhahn und führte sie zu Noctanas Mund.

Wasser.

Das kühle Zeug war die Realität.

Noctana atmete tief durch.

Tabea war gerade erstochen worden. 

Eine der Geister hatte ihr ein Messer durch den Stuhl in den Rücken gerammt und war dann wieder mit leisen Schritten verschwunden, das Gesicht zu Boden gerichtet, abgewandt von den Jugendlichen die sie alle fassungslos anstarrten.

Noctana hingegen lebte.
Ihr Herz schlug noch, sie atmete.

Ein Atemzug, ein zweiter. Der Raum hörte auf sich zu drehen wie eins dieser verrückten Karussels, die die Leute um ihr Leben bangen ließen.

„Gehts wieder?", fragte Manare.

Noctana nickte.

Ja. Ja, es ging wieder.


Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt