Kapitel 39.

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Ophelia nahm ihre linke Hand von der Ecke weg, trat einen Schritt zurück.

Wessen Leiche war das hier?

War es Carters? 

Lenas?

Christophers, Thomas, Olivers-?

Ophelia zitterte am ganzen Körper, drehte sich so hastig um, dass ihr Arm zum wiederholten Mal von den Messern getroffen wurde, aber dieses Mal hieß sie den Schmerz willkommen.

Sie wollte Weinen, aber sie wusste nicht, ob sie es dann wieder schaffen würde aufzuhören.

Also konzentrierte sie sich auf den physischen Schmerz – Schmerzenstränen würden enden.

Das Feuer würde man löschen können, die sichtbaren Wunden würden zuwachsen.

Aber die Dunkelheit konnte nicht immer erhellt werden.

Sie wollte rennen. Kein Ziel, kein Weg.

Keine Gedanken – davor wollte sie doch sogar wegrennen, oder?

Keine Gedanken. Sie hatte so sehr Angst etwas zu vergessen, jede Erinnerung, so schlimm sie auch war: Jede einzelne sorgte für Struktur, Kontrolle. Ein Gefühl von Sicherheit.

Aber wenigstens für einen Moment würde sie gerne – weg. Etwas anderes spüren als Kälte, Blut und Schmerz.

Aber würde sie das jemals noch tun?

Eines Tages, fiel Ophelia ein, eines Tages würde sie den Tod spüren, das Gefühl des Sterbens kennenlernen.

Sie hatte keine genaue Vorstellung davon, wie es werden würde. Ihr einziger Wunsch war nur, schmerzfrei zu sterben.

Und sie wollte nicht die Mörderin sein.

Die Messer verstörten sie nicht nur aus dem Grund, dass sie sich versehentlich schneiden könnte – sie hatte Angst davor, dass sie sich freiwillig schneiden würde.

Ophelia fürchtete sich nicht nur generell vor anderen Menschen, sondern auch vor sich selbst. Sie wollte sich so gerne wirklich vertrauen können, aber das tat sie nicht.

Sie hatte nicht wirklich bemerkt, dass sie angefangen hatte langsam im Kreis zu laufen. Ihre Orientierung hatte sie schon längst verloren.

Wo war die Tür?

Wo war die hintere, messerfreie Wand?

Wo war die Leiche?

Ihr Atem ging schneller, jetzt wo sie genau wusste, was sich im Raum befand machte sich der Geruch von Verwesung in ihrer Nase breit, blockierte ihre Atemwege.

Sie musste hier raus, oder sie würde durchdrehen!

Oder war sie bereits durchgedreht? Bemerkte man, wenn man komplett durchdrehte, oder war es an dem Punkt schon unmöglich irgendetwas richtig zu realisieren?

Eine Träne rann ihre Wange hinunter, Ophelia wischte sie nicht weg: Sie konzentrierte sich auf das Gefühl der herabfließenden Flüssigkeit.

Das war die Realität.

Kurzentschlossen setzte sie die Fingernägel an ihren Arm an und fuhr mit starkem Druck darüber. Sie schrie auf, als ihr klar wurde, dass sie den ohnehin schon verletzten Arm genommen hatte.

Der Schmerz – das war die Realität.

Re-a-li-tät: Ernstfall, Leben, Wirklichkeit.

Ihre Gedanken drehten sich weiter; Ophelia schloss die Augen, konzentrierte sich ganz auf den Schmerz.

Das Problem war nur: Es tat so sehr weh, dass sie befürchte das Bewusstsein zu verlieren.

Ihr rechter Fuß schlitterte zur Seite, sie war in eine der Pfützen getreten. Hastig versuchte Ophelia ihr Gleichgewicht zurück zu gewinnen.

War es sicherer, wenn sie sich hinkniete?

Nein, so würde sie der Leiche vielleicht nur noch näher sein-

Die Minuten verstrichen, eine nach der anderen. Die Zeit schien zu schleichen, aber nach Ewigkeiten schaffte Ophelia es endlich, sich davon überzeugen, dass nichts passieren würde, wenn sie die Augen öffnete.

Sie würde sowieso nichts erkennen können, oder?

Zu ihrer Überraschung strömte Licht in den Raum.

Die Tür stand offen.

Fünf Sekunden brauchte sie um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Und dann rannte sie.

Ihre Schritte waren nicht wackelig, ihre Beine zitterten nicht, als sie aus dem Raum hinausstürmte.

Sie rannte nicht weit, stoppte nicht besonders weit entfernt von dem Raum.

Rechts neben ihr stand eins der Regale, Ophelia stütze sich darauf ab, warf einen Blick auf ihren blutenden Arm und stöhnte. Er sah genauso schlimm aus wie er sich anfühlte.

Plötzlich waren da wieder die Zweifel. Wie lange würde sie das hier noch aushalten?

Sie hätte sich so leicht eins der Messer nehmen können und-

„Feely."

Ophelia hob sofort den Kopf. Vor ihr stand James.

„Ophelia.", wiederholte er.

„Hi.", sagte sie.

„Was-"

„Messerraum. Inklusive Leiche und zweiter Person.", sagte Ophelia mit zitternder Stimme, biss sich auf die Lippe. Eine Träne bildete sich in ihrem linken Auge, floss über ihre Wange, wurde sofort von Ophelia weggewischt.

James sagte nichts, er sah sie einfach nur an. Dunkles Blau traf auf glänzendes Grau, wie schon so oft zuvor.

Er bemerkte die türkis schimmernden Sprenkel in ihren Augen, sie das helle braun um seine Iris.

James griff nach Ophelias Arm, ihre beiden Blicke waren auf die Wunde gerichtet, auf das verschmierte, dunkelrote Blut.

Er war einen Schritt näher auf sie zu getreten. Ihre Blicke verhakten sich wieder ineinander, niemand traute sich die Stille zu brechen.
James, weil er nicht wusste was er sagen sollte und Ophelia, weil sie befürchte bei jedem weiteren Wort weinen zu müssen.

Sie hatten dort nur gestanden, als sie sich plötzlich umarmten.

Die Temperatur im Keller änderte sich nicht, aber trotzdem war keinem der Beiden mehr kalt. Würden sie fallen, fielen sie beide.

Würden sie sterben, starben sie beide.

Würden sie leben? Lebten sie beide.

Die Bedeutung ihrer Verbindung stach ganz anders hervor, zwischen ihnen war dieses ... Gefühl. Es machte sie glücklich.

Als gäbe es Farbe in dieser weiß-grau-schwarzen Umgebung, etwas, woran man sich festhalten konnte.

Sie standen dort mit geschlossenen Augen, hörten auf den Herzschlag und den Atem des anderen, bis sie die Schritte der Spielleiterin wahrnahmen.

„Wir sehen uns.", sagte Ophelia, leiser als beabsichtigt. James Blick war warm, ruhte auf ihren Augen, ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Wir sehen uns.", wiederholte er.

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Ich weiß nicht wirklich warum, aber ich war kurz davor zu weinen als ich das Kapitel geschrieben habe, dabei ist noch nicht einmal jemand gestorben.

Und welche Art des "Spezialunterrichtes" fandet ihr schlimmer? Den Messerraum oder das Klettern?



Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now