Kapitel 36.

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Noctana wusste nicht, wie lange sie das alles noch aushalten könnte.

Wie viele Nächte würden noch kommen?

Schon am Gedanken an die nächste wollte sie sich in irgendeiner Ecke verkriechen, einen bunten Regenschirm über sich aufspannen und einfach nur ... vergessen.

Wie schön wäre es, die Erinnerungen auszulöschen wie ein altes Foto?

Sie fühlte sich wie ferngesteuert als sie die Klinke zu ihrem Zimmer hinunterdrückte, hineintrat und sich auf ihr Bett setzte.

„Noctana!"

Hinter ihr lief Ophelia in das Zimmer, setzte sich ihr gegenüber.

„Was ist?", fragte Noctana. Ihre Stimme klang ruhig, entspannt.
Leblos.

Na, was hast du falsch gemacht?

„Welche Farbe hat die Wand?"

„Was?", fragte Noctana verwirrt, ihr Kopf pochte unangenehm, sie fasste sich an die Schläfe.

„Welche Farbe hat die Wand?"

„So ... grau halt.", antwortete sie, zog unwillkürlich die Augenbrauen zusammen.

„Was ist dein Name?"

„Noctana."

„Dein ganzer Name?"

„Noctana. Shirin. Taylor."

Das war sie. Das war ihr Name – die Realität.

Das Pochen schwächte ab, Noctana blinzelte, ihre linke Hand zuckte.

„Wo bist du?"

„In ... einem Zimmer. In einem Waisenhaus."

Es war, als würde ihre Sicht sich langsam wieder klaren – dabei war sie doch gar nicht verschmutzt gewesen in dem Sinne. Oder?

„Willkommen zurück in der Realität.", sagte Ophelia und zog die Mundwinkel hoch. Lächelte.

Kurz, sehr kurz. Aber ehrlich.

Sorgenvoll zwar, aber es war ein echtes Lächeln. Höchstens zwei Sekunden, aber es war da gewesen.

„Was-"

„Es ist dir zu früh passiert.", meinte Ophelia, bemühte sich nicht einmal, die Besorgnis in ihrer Stimme zu verstecken.

„Was meinst du?"

„Es ist das Verlieren des Bezugs zur Realität.
Vielleicht ist es dir schon einmal passiert, dass du eine Erinnerung nicht mehr von einem Traum unterscheiden konntest. Oder, dass du einen Gedankengang nicht mehr von etwas wirklich passiertem unterscheiden konntest.

Ich denke, es passiert uns allen hier.

Ich habe es bei Lena mehrmals gesehen."

„Bei Lena?", fragte Noctana verwirrt.

„Ja. Bei Lena. Manare ist es scheinbar noch nie passiert, jedenfalls nie öffentlich."

Noctana schloss ihre Augen, fast sofort erschien das Bild des fröhlichen Mädchens mit den hellen Haaren vor ihr.

Das Bild der absoluten Positivität, vereint in einem einzigen Menschen.

Dann erinnerte sie sich an das Gespräch mit Nolan, vorhin im Flur.

Na ja es gibt hier einige, die nichts anderes wollen als sterben ..."
Tja, die meisten von denen sind aber schon tot! Erin, Le-"

Was, wenn die Fassade von einigen hier viel tiefer reichte als es auf den ersten Blick erschien?

„Und dir?", fragte sie, schlug ihre Augen wieder auf.

„Einige Male.", sagte Ophelia ausweichend.

Noctana nickte, wandte den Kopf – stockte: „Wie viele Male?" Sie musste aufhören, die Dinge so schnell auf sich beruhen zu lassen!

Ophelia antworte nicht. Ein paar Sekunden lang sahen sich die Mädchen einfach nur gegenseitig an, bis Ophelia den Blick auf den Boden richtete.

„Es gibt noch etwas ... dass dich vielleicht interessieren könnte."

„Du weißt was passiert ist ... als die Nacht begann. Also, als das Aufwachen der Nacht begann-"

„Der Amor trat wieder auf. Es war Carla.
Ich weiß, wen sie aneinander gebunden hat."

„Wen?"

Ophelia lächelte wieder, dieses mal allerdings bitter: „James."

„James?", fragte Noctana geschockt. „Er ist ... es tut mir leid, ich ..."

Sie war sich sofort sicher, dass er sterben würde. Und es tat ihr so leid für Ophelia. Das würde sie hart treffen, aber ... wer würde mit ihm sterben?

„Wer ... an wen wurde er gebunden?" War es Manare?
Jegliche Emotion schien aus Ophelias Gesicht gewichen zu sein – zumindest war es Noctana nicht möglich ihren Gesichtsausdruck zuzuordnen.

„Mich.", antwortete Ophelia.

Noctana öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Es gab nichts zu sagen.

Nichts, was irgendetwas ändern könnte.

Die Sache war vorbei: Und sie hatte gerade erst angefangen.

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Was ich schon immer mal fragen wollte: Was glaubt ihr, was für Szenen noch kommen?
Auf welche freut ihr euch?

Irgendwelche Theorien? :-)


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now