Kapitel 80.

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„Einverstanden.", sagte Ophelia sofort. Wyatt biss die Zähne zusammen, James verzog das Gesicht.

„Echt?! Ich hatte gedacht, du willst diejenige sein, die es am Ende tut!", meinte Sophie überrascht und doch begeistert, auf ihre ganz eigene, trockene Art.

„Nein. Ich habe etwas anderes zu tun.", antwortete Ophelia ausweichend. „Also: Der Brief?"

„Natürlich.", sagte Sophie, blieb aber sitzen.

„Es wäre nett, wenn du ihn auch wirklich holen würdest.", bemerkte Nolan höflich.

„Glaubt ihr ernsthaft, ich lasse das Ding in meinem Zimmer liegen, während hier alle herumrennen wie kopflose Hühner?! Wie schlecht kennt ihr mich eigentlich?!", lachte Sophie und zog langsam ein zusammengefaltetes Stück Papier aus ihrer Hosentasche. Sie schwenkte es in der Luft, tat so, als würde sie es verträumt ansehen.

Dann reichte sie es Ophelia.

Noctana sprang auf und lief zu Ophelia – sie musste diesen Brief unbedingt sehen!
Die Stimme in ihrem Kopf schrie geradezu danach, so laut, dass sie ihr schon ernsthafte Kopfschmerzen verursachte.

Liebe Cassidy,

„Wer ist Cassidy?!", fragte Noctana verwirrt.
„Sie war die Hexe. Die Mörderin der Elster, aka der Verfasserin dieses Briefes.", antworte Ophelia dumpf, ohne den Blick von dem Brief abzuwenden.
"Wieso -"
"Ich lese schnell."

ich glaube, dass du mich töten willst.
Es ist so etwas ganz Unbestimmtes und ich weiß nicht,
woher es kommt, aber es ist da und es bleibt.
Jedenfalls bist du die einzige Person, der ich aktuell vertraue.
Die Sache mit Edgar muss einen Grund haben,
ich glaube einfach nicht, dass er einfach auf den Zaun geklettert ist
und aufgespießt wurde.

Das wäre einfach zu ... einfach. Zu logisch. Weißt du, was ich meine?

Deshalb schreibe ich dir diesen Brief: Cass, bitte töte mich nicht!
Ich glaube, dass ich weiß, wie wir das Spiel beenden können!
Ich kann mich erinnern, an das Gespräch und an die Kartengebung.

An die Metallkarte, von der du mir erzählt hast.

Sie muss zerstört werden.
Ich weiß nicht wie, vielleicht hatte Edgar etwas damit zu tun,
aber er hat mir nie viel von sich erzählt.

Aber ich habe etwas über die Zungenlosen herausgefunden.

„Die Zungenlosen?", wisperte Noctana.
„Kannst du bitte damit anfangen, erst nachzudenken und dann die Frage zu stellen?! Die Zungenlosen sind die Leute, die wir die Geister nennen. Die Frauen aus der Küche.", meinte Ophelia genervt. „Außerdem liest du wirklich sehr langsam."

Sie sind auf unserer Seite!
Und sie haben über Generationen hinweg
alles verlernt, jegliche Kommunikation!
Sie kennen nur noch die Gesten fürs Morden.
Pistole, Messer, Seil ... das war das einzige, worüber ich mich anfangs
mit ihnen "unterhalten" konnte.

Aber ich habe einer von ihnen das Schreiben beigebracht!
Ihr Name ist Philine, zumindest nenne ich sie so,
und sie hat mir die Geschichte der Zungenlosen erzählt.

Ich weiß nicht genau wie es anfing,
aber wenn ich Philine richtig verstanden habe,
war ihre Mutter auch schon eine Zungenlose
Sie haben vorallem zwei Aufgaben:
Das Kochen und das Morden. Sie helfen bei dem Foltern.
Ich glaube, eine von ihnen hat Edgar umgebracht,
natürlich im Auftrag der Spielleiterin.

Denn die Spielleiterin ist die Wirkliche böse hier.
Nicht die Werwölfe: Die Spielleiterin.

Ich glaube, sie kann niemanden töten: Wenn sie es doch tut,
wird irgendetwas passieren.
Sie muss immer irgendetwas haben, was sie auf einen anderen schieben kann:

Zum Beispiel die finale Tat dann, oder eine Waffe oder so -
aber mit "bloßen eigenen Händen" kann sie niemanden umbringen.

„Oh mein Gott.", wisperte Ophelia. „Mein Messer. Es war mein Messer."
„Was, wo steht das?!", fragte Noctana, die noch zwei Absätze hinter Ophelia mit dem Lesen beschäftigt war.
„Lies einfach weiter.", meinte Ophelia.

Du musst Philine finden!
Sie kann dir helfen, auszubrechen.
Du musst das Spiel beenden, du musst uns alle retten!
Sonst sind die Generationen nach uns dazu verdammt,
das hier auch zu erleben.

Vielleicht kann ich noch mehr mit Philine besprechen,
vielleicht weiß sie noch mehr,
vielleicht kann ich ihre Hinweise entschlüsseln,
aber dafür brauche ich Zeit!
Also, bitte: Bitte, bring mich nicht um.

Töte mich nicht, Cass, töte. Mich. Nicht.

Ich weiß zu viel, um jetzt schon zu sterben.
Bitte.

Viele Grüße,
die Elster

PS: Solltest du mich töten, dann möchte ich,
dass du mir dabei in die Augen siehst.

„Philine.", wisperte Wyatt. „Ich kenne den Namen."

„Seit wann sprichst du mit den Geistern?!", fragte Sophie mit spöttischem Unterton.

„Noch nie. Aber Lena hat ... einmal hatte ich Hunger. So richtigen Hunger, wisst ihr? Ich hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, weil die Spielleiterin mir gesagt hatte, würde ich essen, gäbe es nichts mehr für Lena.

Das habe ich Lena nie erzählt, denn sonst hätte sie angeboten, nichts mehr zu essen. Stattdessen habe ich halt einfach ... kurzzeitig nichts gegessen.", erklärte Wyatt und blinzelte heftig, um die Tränen aus seinen Augen zu kriegen, die jedes mal kamen, wenn er an seine tote Schwester dachte.
Es funktionierte nicht wirklich. „Jedenfalls hat Lena irgendwann bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt und ich habe ihr gesagt, dass ich einfach ein bisschen Hunger hätte.
Ich habe immer versucht, Lena zu beschützen, das wisst ihr – aber sie hat genauso versucht, mich auch zu beschützen. Also hat sie in einer Nacht die Küche gesucht.
Und sie hat sie gefunden.

Dann hat sie mir von einer Geisterfrau erzählt, die sofort zu ihr gerannt ist und etwas aufgeschrieben hat. Sie meint, sie hätte nur ihren Namen geschrieben und dann, dass sie auf ihrer Seite wäre.

Lena hat einen Smiley gemalt, hat sie erzählt. Und eine Blume.
Diese Frau hat versucht, danach noch etwas aufzuschreiben, aber eine andere Frau hat Lena aus der Küche geschoben und die Tür hinter ihr zugeknallt.
Lena brauchte Stunden, um den Ausgang aus diesem Keller zu finden. Damit sie das nicht noch einmal macht, habe ich wieder gegessen: Und die Spielleiterin hat gelogen. Lena konnte weiterhin essen."

„Das ... das ist schön.", sagte Noctana leise. „Dass sie weiterhin essen konnte, meine ich."
Wyatt nickte, mit den Gedanken ganz woanders.

„Also müssen wir Philine finden?", fragte Sophie.

„Wir müssen zuerst die Küche finden. Dann können wir Philine finden.", korrigierte Ophelia.

„Okay, also weshalb sitzen wir noch hier?! Wir müssen Philine finden!", rief Sophie enthusiastisch.

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80 Kapitel. Ich weiß, es sind kurze Kapitel, aber trotzdem sind wir ohne Witz schon bei über 60.000 Wörtern!


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now