Kapitel 69.

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Lena und Wyatt hatten ihre Eltern im Alter von neun Jahren verloren.

Sie hatten zuhause auf dem Sofa gesessen und Tom&Jerry geguckt, Wyatt hatte seinen Plüsch-Pinguin fest umklammert, als es plötzlich geklingelt hatte.

Lena war zur Tür gegangen, hatte zuerst durch das kleine Guckloch geguckt und dann die Tür geöffnet.

„Hallo.", war das erste, was der Polizist zu ihr sagte. Wyatt konnte sich nicht daran erinnern, was wirklich als nächstes passierte.

Er wusste nur, dass er den Pinguin irgendwann fallen ließ.

Autounfall, das wusste er.
Beide tot, das wusste er.
Von Anfang an keine Hoffnung mehr, das wusste er auch.

Lena hatte nicht geweint, er hatte nicht geweint. Zumindest nicht am Anfang.

Dann, eine Woche nach dem Polizistenbesuch hatte Lena sich auf dem Dachboden versteckt. Anschließend war sie erst einmal nicht zurückgekommen.

Die Aufpasser, wie Lena und Wyatt den Mann und die Frau genannt hatten, die zu der Zeit mit ihnen in dem Haus lebten, waren gerade Einkaufen.
Der Polizist hatte etwas von Adoption gefaselt, aber weder Wyatt noch Lena wollten all das wirklich wahrhaben.

Wyatt war jedenfalls wegen der plötzlichen Isolation seiner Schwester unruhig geworden – was machte Lena nur so lange dort oben?!

Er ließ weitere zwanzig Minuten vergehen, dann ging er endlich nach oben. Die Tür zum Dachboden war verschlossen, also klopfte er heftig gegen das schwere Holz: „Lena?"

Keine Antwort.

„Lena?!", wiederholte der junge Wyatt, beim zweiten Mal deutlich ängstlicher.

Jetzt hörte er ein leises Schluchzen: „Ich will das nicht."

„Lena?", flüsterte er besorgt. „Lena?!"

Ein weiteres Schluchzen, und ein weiteres, rauschendes Geräusch – war das Wind?

Hatte Lena ein Fenster geöffnet?

Das war der Moment, in dem Wyatt klar wurde, dass er auf den Dachboden musste, um Lena von etwas abzuhalten.

Von etwas, das so ziemlich das dümmste war, das Lena je fast getan hätte.

Also kniete er sich hin und betrachtete das Türschloss.

Es war ein altes Schloss, das schon leicht angefangen hatte zu rosten, so erschien es Wyatt zumindest.

„Lena, WARTE!", brüllte Wyatt und hoffte von ganzem Herzen, dass seine Schwester ihn hören konnte. Dann sah er sich nach irgendetwas um, womit er die Tür öffnen konnte. Nach dem Schlüssel vielleicht?
Wo war dieser verdammte Schlüssel überhaupt?!

Stattdessen fand er drei Haarklammern.

Es dauerte fast drei Minuten, bis Wyatt es schaffte, die Tür ohne Schlüssel zu öffnen.

Drei Minuten, die er zitternd und vor Verzweiflung weinend vor der Tür kniete, die drei Haarklammern fest umklammert in seinen schwitzigen Händen.

Das Haar klebte ihm auf der Stirn, seine Zähne hatten geklappert, ihm war gleichzeitig eiskalt und doch viel zu heiß.

Das Zittern wurde stärker, er ließ eine der Haarklammern fallen und hob sie wieder auf.

Dann, endlich; mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf.

Wyatt stürmte sofort auf den Dachboden, sah weder nach rechts und links, sondern lief geradewegs auf Lena zu, die sich wie versteinert am Fensterrahmen festhielt.

Ihr linkes Knie war auf einen Stuhl gelegt, als hatte sie sich hochdrücken wollen. Als hatte sie aus dem Fenster-

„Lena.", hatte Wyatt geflüstert und seine Schwester sanft von dem Fenster weggezogen. Lena hatte nichts mehr gesagt.

Sie hatten nie wieder darüber geredet, was an diesem Tag passiert war.
Sie hatten sich verboten darüber nachzudenken, was alles hätte passieren können.

Doch seitdem hatte Wyatt geübt.
Er hatte sich darin geübt, Schlösser zu knacken.
Er wurde schneller, er wurde besser.
Denn: Was, wenn Lena beim nächsten mal nicht warten würde? Was, wenn sie beim nächsten mal sofort springen würde?

Was, wenn er beim nächsten mal zu spät kommen würde?

„Wyatt?", fragte Ophelia vorsichtig, Wyatt spürte ihre kalte, schmale Hand auf seiner Schulter, die ihn wieder zurück in die Gegenwart riss.

„Was ist los?", fragte sie leise. James sah ihn ebenfalls besorgt an; er hatte keine Ahnung hiervon.

„Ich hab nur ... ich musste kurz an Lena denken.", erklärte Wyatt nüchtern. Ophelia nickte ihm fast unmerklich zu und Wyatt schluckte heftig.

Dann wandte er sich dem Schloss vor Raum null zu.
Nur ein einziges Schloss, dann würde die Eisenkette abfallen und dahinter war dann nur noch das Türschloss; aber Wyatt rechnete nicht damit, dass es abgeschlossen sein würde.

„Das schaffe ich.", murmelte Wyatt und hob die Haarklammern. Das hier war etwas, was er konnte. Aber jetzt gerade wurde jeder einzelne Schritt, jedes leise Klicken, begleitet von seinen Erinnerungsfetzen.

Er hatte doch versucht, Lena zu beschützen. Aber Lena war jetzt tot.

Die Tränen, die Wyatt tagsüber eigentlich meist verdrängen konnte, stiegen ihm in die Augen, brachten seine Sicht durcheinander.

Wann kam endlich das erlösende, finale Klicken, mit dem Schlösser meist aufsprangen?!

Möglichst ruhig drückte Wyatt die Haarklammern auseinander: Es musste gleich aufspringen.

Es musste. Es musste einfach!

Zitternd drehte Wyatt die Haarklammern wieder und wieder, Stunden schienen zu vergehen; dann, endlich, sah Wyatt wie James leicht an der Eisenkette zog. Sie fiel zu Boden.

Pure Erleichterung durchflutete Wyatt.

Lena konntest du trotzdem nicht retten. Das war der Satz, der ihn seit Tagen begleitete, der ihn fast um den Verstand brachte.

Wie ein Ohrwurm brachte dieser einzelne Satz seine Gedanken durcheinander, setzte sich fest in seinem Gehirn fest und ließ ihn einfach nicht los, egal, woran er versuchte zu denken.

Du kamst zu spät.


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now