Kapitel 59.

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Manare lief so schnell wie sie konnte durch den Keller, bog hier ein, nahm dort die nächste Abzweigung.

Das Untergeschoss war riesig.

Riesig und verwinkelt, wie ein Labyrinth mit steinernen Mauern.
Sie fühlte sich als wäre sie zurückversetzt in ihre frühere Kindheit.

Als ihre Eltern noch bei ihr gewesen waren.

Ihre Mutter und sie hatten einmal ein Maislabyrinth besucht.
Stundenlang waren sie herumgelaufen, am Anfang war die Laune ihrer Mutter noch gut gewesen. Sie hatten zusammen gelacht, gescherzt.

Aber dann, als die Zeit verging und sie immer noch keinen Weg nach draußen gefunden hatten, holte sie ihren Flachmann heraus und trank.
Manares Mutter vertrug keinen Alkhohol – trotzdem hatte das Zeug sie süchtig, es hatte sie von sich abhängig gemacht.

Wenn sie Alkohol trank, wurde sie sehr schnell aggressiv.
Die sechsjährige Manare hatte diese Aggressivität schon oft miterlebt, sie verstand sofort was gleich passieren würde. 

Also war sie losgerannt.

Und genau wie damals hatte sie auch jetzt keine Ahnung mehr wo sie war, wo sie eigentlich hinwollte.

Hauptsache weiter.

Manare lief im Kreis.
Aber sie achtete nicht darauf, dass sie dieselben Wege hin und zurück lief.

Sie musste etwas finden! Denn was wenn sie sterben würde? Wenn sie nichts zu Essen fände, nie wieder essen würde?

Egal woran sie dachte, ihr Gehirn verknüpfte alles sofort mit dem Tod.

Es brachte Manare zum Zittern, ihre Beine drohten unter ihr wegzuknicken, ob vor Erschöpfung oder Angst wusste sie selbst nicht.

Und dann prallte sie mit jemandem zusammen.

„Vorsicht.", sagte Wyatt überrascht, stolperte schnell einen Schritt zurück.

Manare sah zu ihm auf, ihre Unterlippe zuckte, ihre Augen verengten sich: „Warum, Wyatt?!"

Sie dachte nicht mehr nach. Sie sagte, was sie sagen wollte, ohne über die Folgen nachzudenken.

Es war, als würde ihr Gehirn sich weigern den Lichtschalter anzuknipsen.  

„Ähm ... was genau meinst du?", fragte Wyatt verwirrt.

Wyatts Augen waren von einem tiefen, dunklen braun, genau wie die Manares.

Aber seine erschienen nicht schwarz, trotz ihrer dunklen Farbe.

Es war ein warmes braun, ganz im Gegensatz zu dem kalten, schwärzlichen in Manares Augen. 

„Warum ich?", fragte Manare schließlich.

„Manare, was -"

„Ich mag dich, Wyatt, okay? Warum mochtest du mich nicht so wie ich dich?!", fragte Manare, die Tränen liefen aus ihren Augen, flossen über ihre Wangen.

Rede. Rede. Wenn du redest, bist du noch nicht tot, sagte sich Manare.

„Ich-", fing Wyatt an, hob die Hände, um zu einer Art Erklärung anzusetzen, auch wenn er nicht wusste, was er sagen wollte. Er hatte keine Ahnung, was die nächsten in der Luft hängenden Worte sein würden.

„Warum vertraut mir niemand?! Warum bin ich hier?! Wa-"

„Manare, ich mag dich!", unterbrach Wyatt sie verzweifelt.

„Vielleicht. Aber nicht so. Oder?", fragte Manare. 

Wyatt stockte. Er verstand endlich was Manare meinte - und wünschte sie, er würde es nicht.

"Es tut mir l-", fing er hilflos an, wurde unterbrochen, als Manare ihre Hand zur Faust ballte und Wyatt fest gegen den Bauch haute.

Er stolperte weiter zurück, atmete erschrocken aus.

„Du hast keine Ahnung wie das ist, oder?!", schrie Manare.

Tod. Tod. Tod, hallte es in ihrem Kopf wieder.

Er wird dich jetzt töten.

„Ach ja? Vielleicht mag ich dich nicht auf diese Art, aber vielleicht jemanden anderen.
Und vielleicht hat dieser jemand andere davon keine Ahnung, und ich weiß, dass es niemals funktionieren würde, weil die Person mich nie so mögen wird, wie ich sie-"

„Willst du deshalb sterben?", unterbrach Manare ihn.

„Was?". Verblüffung machte sich in Wyatt breit. Unwillkürlich musste er an Lena denken.

„Ich will nicht sterben.", sagte Manare sanft, ihr Blick wurde verklärt, ging an Wyatt vorbei.

„Manare, was ist eigentlich los?", fragte Wyatt verwirrt.

„Ich weiß es nicht.", antwortete sie grob. „Vielleicht habe ich Angst. Vielleicht bin ich genervt. Vielleicht-"

„Wie wäre es, wenn wir das „vielleicht" weglassen? Nur so als Vorschlag? Zu hypothetisch zu werden führt zu keiner Lösung.", unterbrach Wyatt sie.

„Ich will dieses Gespräch nicht führen, Wyatt. Nicht mit dir und auch nicht mit irgendjemand anderem.

Und zwar weil mich niemand versteht: Ihr haltet mich doch alle für verrückt!", schrie Manare wütend, jegliches sanftes verschwand aus ihren Augen, sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte losstürmen.

„Hey, warte. Manare! Wo willst du - Manare!"

Tod, Tod, Tod.

„Weg.", antwortete Manare, drehte sich nicht noch einmal zu Wyatt um.

„Manare!"

Wyatt lief ihr nicht hinterher.

Also rannte sie weiter.

Es war nicht gut, Leute zu mögen. Nicht auf diese Art.

„Das wird dich zerstören, meine Liebe. Denn du kannst die anderen nicht kontrollieren, du kannst die Gefühle der anderen nicht kontrollieren. Und wenn du das nicht bemerkst, kannst du irgendwann nicht einmal mehr dich selbst kontrollieren. Willst du das, Manare?"

Worte ihrer Mutter.

Sie würde diese Sätze nie vergessen. Nicht, weil ihr die Worte viel bedeuten.

Nicht, weil sie besonders beeindruckend vorgetragen waren.

Ihr Vater war gerade aus dem Haus gerannt. Manares Mutter stand dort, vor der geöffneten Tür.

Das kleine Glasfenster, durch das Manare immer geguckt hatte, wenn sie Besuch erwarteten, war eingeschlagen.

Auf dem Boden vermischten sich die Fensterscherben mit denen einer zersplitterten Bierflasche. 

Die größte Scherbe aber war in der Hand ihrer Mutter.

„Manare!"

Manare hörte sich selbst schluchzen, trotzdem versuchte sie nicht, an etwas anderes zu denken.

Ihre Mutter hob die braune Scherbe ein wenig höher, sagte die Worte.

Und fügte am Ende ihre letzten Sätze hinzu: „Die Liebe hat ihn vertrieben und mich in den Tod gestoßen. Der Tod ist mächtig, mein Kind.

Und er möchte mich mitnehmen. Heute will ich mitgenommen werden.

Morgen werde ich meine Entscheidung bereuen. Aber Morgen wird es nicht mehr geben. Nie wieder."

Dann hatte sie sich umgebracht.

Und Manare war weggelaufen, genau wie jetzt - nur das früher Autos und Menschen neben ihr gewesen waren.

Heute waren es nur noch dreckige Wände.


Werwolf - das BlinzelmädchenOn viuen les histories. Descobreix ara