Kapitel 57.

90 24 9
                                    

Noctana sprang auf, ihr Stuhl krachte durch die plötzliche Bewegung nach hinten, schlug laut auf dem Boden auf und sie stolperte über eines der Stuhlbeine, fing sich ungeschickt mit ihren Händen ab.

„Verdammt.", murmelte sie, betrachtete ihre schmerzenden Hände.
Keine größeren Verletzungen, nur ein paar unspektakuläre Schürfwunden.

Der Versammlungssaal leerte sich innerhalb weniger Sekunden komplett.

Das ganze Waisenhaus war erfüllt von hektischem Atmen, schnellen Schritten und der darauf folgenden knarzenden Reaktion des Holzes.

Noctana rappelte sich auf, lief in den Flur und blieb stehen.

Wo sollte sie hin?

Am sichersten erschien es ihr, sich zuerst im ersten Stock umzusehen, im Flur wühlten sich schon zu viele durch die Jacken an den Haken.

Die Anderen würden sich wahrscheinlich auf sie stürzen wie Elstern auf etwas glänzendes, die Augen nur auf das Essen gerichtet, das sie vielleicht finden würde.

Dabei hatten sie alle nicht einmal besonders großen Hunger.

Natürlich, ihre Mägen knurrten, aber sie würden es ohne Essen auch noch eine Weile aushalten.

Es war die Angst, die sie dazu führte, sich wie Tiere um alles essbare zu streiten.

Die Ungewissheit, wann es das nächste mal etwas zu Essen geben würde.

Die wenigsten von ihnen konnten in diesen Momenten noch einen klaren Gedanken fassen.

Also lief Noctana die Treppe hoch, achtete auf jeden ihrer Schritte, während andere an ihr vorbei sprinteten, Stufen übersprangen, ohne ein einziges mal zu stolpern.

Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis die oder der erste von ihnen hinfallen und sich verletzten würde.

Noctana stand unschlüssig vor der ersten Tür. Konnte sie wirklich irgendwelche fremden Zimmer durchwühlen?

Ähm ... ja?! sagte die Stimme, also gab Noctana sich einen Ruck und stieß die Tür auf.

Auf dem Nachttisch lagen zwei Etuis, fest verschlossen.
Auf dem ersten prangte der Schriftzug EH, auf dem anderen AM.

Die beiden Betten waren nicht gemacht, fahles Licht fiel von draußen durch ein schmales Fenster.

Noctana lief durch das Zimmer und öffnete den Schrank.

Auf der einen Seite stapelten sich fleckig gefärbte, hellgraue Klamotten, mit nur wenigen Ausrutschern in dunklere Grautöne.

Die Sachen waren ordentlich gefaltet und akkurat aufeinandergelegt, als hätte jemand stundenlang die perfekten Abstände mit einem Lineal abgemessen.

Die andere Hälfte war bemüht ordentlich zusammengelegt, aber die Klamotten waren schlampiger zusammengefaltet, einige Ärmel hingen hervor. Die Farbtöne dieser Sachen waren viel abwechslungsreicher.

Noctana schloss die Schranktüren nachdenklich, kniete sich hin und sah unter die beiden Betten.

Die Überraschung überrollte sie wie eine Welle.
Unter einem der Betten lagen verschiedene Klamotten, komplett durcheinander geworfen.

Ein T-Shirt sah so aus, als hätte jemand versucht es zu falten, es aber dann doch zu Boden fallen lassen.

Aber weshalb hatte die Person das getan?
Ihre Zimmermitbewohnerin jedenfalls hatte ihre Klamotten auf dem Boden vor ihrem Bett verschtreut.

Die eine hatte anscheinend versucht, ihre Schlampigkeit zu verstecken.
Die andere nicht.

Noctana rappelte sich auf, besann sich zur Ordnung. Sie war nicht hier, um etwas über die persönliche Verfassung der Bewohnerinnen hier herauszufinden, sondern um etwas essbares zu suchen.

Trotzdem war sie geschockt, obwohl sie sich selbst nicht erklären konnte weshalb das so war.

Ohne wirklichen Grund zog sie einige der Kleidungsstücke hervor. Die Stoffe waren faltig, sie zog einen der Pullover auseinander um das Muster zu erkennen – und ein Foto flatterte heraus.

Noctana hob es auf – das Mädchen hatte sie schon einmal gesehen, doch ihren Namen kannte sie nicht. Neben dem Mädchen stand eine alte Frau, die die Augen fröhlich zusammengekniffen hatte, als wenn sie direkt in die Sonne gucken würde.

Noctana drehte das Bild um.

Liebe Ariane,
Guck mal, Oliver hat es endlich geschafft, das Foto zu entwickeln!
Ganz liebe Grüße, deine Oma!

Die Schrift war altmodisch geschwungen, die dunkle Tinte verblasste schon.

Ariane musste hier im Waisenhaus leben. Vielleicht hatte sie vorher bei ihren Großeltern gelebt und vielleicht waren die dann ...

Ach komm schon, fällt es dir wirklich so schwer das Wort „gestorben" auch nur zu denken, du Feigling?! lästerte die Stimme.

Noctana schüttelte den Kopf, steckte das Foto zurück.

Ihr war etwas schwindelig.

„Was machst du da?"

Noctana fuhr herum. Das Mädchen von dem Foto stand vor ihr. Zumindest ihre ältere Version.

Und sie sah nicht besonders glücklich aus.

-------

Es werden vermutlich noch mehr solche kleinen Hintergrundgeschichten kommen, oder zumindest Hinweise darauf - was haltet ihr von so etwas?

Und gibt es jemanden, über den ihr gerne mehr erfahren würdet, egal ob tot oder lebendig?


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now