Kapitel 31.

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In der vorherigen Nacht waren einige Werwölfe zurückgekehrt.

Noctana erinnerte sich genau daran - Daran, an der Tür zu stehen, hinter ihr die Leiche von Erin.

Aber auch dieser Teil schien in der heutigen Nacht zu fehlen.

Während ihre Tränen langsam trockneten und Noctanas Atem sich beruhigte, geschah eine lange Zeit lang wieder nichts.

Bis der weiße Werwolf auftauchte. Noctana sah seinen leuchtenden Kopf mit den blauen Augen allerdings nur von weitem – denn er blieb im Flur der Jungen.

Eine Tür öffnete sich, der Wolf knurrte leise.

Der Ton war so tief, dass Noctana ihn fast nicht hörte, dafür spürte sie das tiefe Vibrieren in ihrem Bauch. Dabei war er doch so weit weg!

Geh hin! Ertönte es in Noctanas Kopf, immer und immer wieder. Die Stimme, die doch gleichzeitig ihre eigene war drängte sie geradezu.

Es könnte stören: Aber Noctana musste sich eingestehen, dass die Stimme nur ihren Wunsch aussprach.

Sie wollte wissen, hinter welcher Tür der Wolf verschwunden war, also schlich sie los.

Ihre Schritte hallten nicht wieder, trotzdem erfüllten sie den ganzen Raum. Bei jeden Knarzen fing ihr Herz schneller an zu schlagen, ihre Atemgeräusche vermischten sich mit eben diesen Schritten.

Und dann schrie wieder jemand. Die Stimme war deutlich tiefer, klang aber genauso schrill, genauso panikerfüllt.

Der Schrei wurde schließlich übertönt von einem fiesen Knurren, einem wütenden Reißen und das Kreischen verstummte.

Noctana erschauderte, als in ihrem Kopf ein Bild von der vermutlich komplett zerfetzten Leiche entstand. Die Tür öffnete sich langsam und der Wolf trat vorsichtig hinaus.

Wie erwartet verwandelte er sich langsam zurück, jegliche Aggression schien verschwunden zu sein.

Es war wirklich verwunderlich.

Noctana kniff die Augen zusammen um das Wesen besser erkennen zu können und drückte sich enger an die Wand, um nicht entdeckt zu werden.
Seltsamerweise fürchtete sie sich längst nicht so sehr wie eben, als sie auf Nolan getroffen war, obwohl dieses Wesen doch eigentlich viel gefährlich war als der Wächter, oder?

Es gab eine Sache, die ihr irgendwie komisch vor kam, aber sie konnte nicht genau erklären, was es war ... diese Tür.

Irgendetwas war mir dieser Tür!

Und dann schoss die Erkenntnis durch ihren Kopf: Sie war bereits geöffnet worden.

Dieser weiße Werwolf hatte einen seiner Artgenossen umgebracht! Aber warum würde er das tun?

Er wollte doch, dass die Werwölfe gewannen!

In diesem Spiel scheint es Anfangs noch eine klare Grenze zu geben, die Grenze zwischen gut und böse, zwischen richtig und falsch. Aber du musst wissen, Noctana, dass diese Grenze verschwimmen wird, bis es weder schwarz noch weiß gibt – alles wird grau.

Noctana erinnerte sich wage an diese Worte, die die Spielleiterin anfangs an sie gerichtet hatte. 

Es gab "gute" Werwölfe – Mörder der Guten und gleichzeitig ... Mörder der Bösen.

Andererseits: Konnte man einen Mörder wirklich als Gut bezeichnen?

Auch wenn er die anscheinend "Bösen" umbrachte, beendete er immer noch Leben, er entschied wer das Recht hatte, weiterhin zu atmen.

Konnte das wirklich als "Gut" bezeichnet werden?

Noctana zuckte zusammen, als eine Tür ins Schloss fiel – die, hinter der der weiße Werwolf verschwunden war. Er war in sein Zimmer zurückgekehrt.

Würde noch etwas passieren?

Oder war das jetzt das Ende der Nacht?

Noctana lief zurück zu dem Treppenabsatz, stellte sich auf weitere langweilige Minuten ein, denn noch hatte die Müdigkeit sie nicht wieder in ihren Bann gezogen. 

Trotzdem schloss sie die Augen, ruhte sich etwas aus ...

Ein Geräusch von leicht schleifendem Metall ertönte; das Öffnen einer Türklinke. Noctana setzte sich aufrechter hin und wischte sich über die Augen.

Eilig und leichtfüßig lief ein Mädchen vor Raum null. Es sah nicht besonders verwirrt, eher aufgeregt aus.

Dann drehte es seinen Kopf – und Noctana erkannte Manare.

Die Stimme der Spielleiterin ertönte: „Möchtest du mit jemandem Kontakt aufnehmen?"

Nicht lange danach trat sie auch schon aus der Dunkelheit des Jungsflur, stellte sich gegenüber von Manare.

„Du weißt: Du kannst mit allen reden, aber deine Kraft funktioniert nur bei dem Kontakt zu Toten. Erwischst du einen Lebendigen, verlierst du deine Kräfte. Erwischst du einen Werwolf -"

„Sterbe ich.", murmelte Manare und sah zu Boden.

„Korrekt."

Manare öffnete den Mund, zögerte, schloss ihn wieder und sah schließlich hoch: „Nein."

„In Ordnung."

Die Spielleiterin drehte sich ohne ein Wort der Verabschiedung um und lief zurück in den Jungsflur. Manare sah ihr kurz unschlüssig nach, drehte sich dann ebenfalls und verschwand.

Es geschah ganz plötzlich und überraschte Noctana, obwohl sie darauf eigentlich schon vorbereitet gewesen war: Ihre Sicht verschwamm, ihr Kopf fing an zu pochen und ihre Muskeln schienen nicht mehr auf sie zu hören.

Eilig stand sie auf und lief mit wackligen, unangenehm lauten Schritten zurück in ihr Zimmer, fiel in ihr Bett.

Und schlief wieder ein.


Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt