Kapitel 48.

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Noctana saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf ihrem Bett und bereitete sich langsam auf die Nacht vor.

Das Abendessen lag noch vor ihr – sie hoffte, dass Tabeas Leiche nicht mehr dort saß, sonst würde sie garantiert keinen Bissen hinunterwürgen können.

Sie hatte ohnehin keinen besonders großen Appetit.

Ophelia fehlte lange, als sie zurückkam trug sie andere Sachen, ihre Haare waren feucht.

Anscheinend war auch sie duschen gewesen.

„Normalerweise ist das Wasser morgens immer heiß.", sagte Ophelia und band sich die schulterlangen Haare zu einem einfachen Zopf. 

„Was?", fragte Noctana verwirrt.

„Früher war das Wasser morgens immer so unerträglich heiß und abends eiskalt. Offenbar ist es jetzt andersherum."

„Hier gibt es warmes Wasser?", fragte Noctana überrascht.

„Nicht warm. Heiß.", korrigierte Ophelia.

„Warum hast du Dylan angeklagt?", wechselte Noctana das Thema.

„Ich habe mir seine Karte letzte Nacht angesehen. Es waren drei Wölfe abgebildet, verbunden durch eine rote Linie. Ich denke das Ding sollte Blut, also eine tiefe Verbindung symbolisieren. Er ist einer der Seelen-Wölfe.
Stirbt er, haben wir zwei mehr auf unserer Seite."

„Oh.", machte Noctana. „Ich habe für ihn abgestimmt."

„Ich weiß."

„Aber du hast für Tabea gestimmt."

„Ich weiß.", wiederholte Ophelia mit belegter Stimme. 

Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem Tabea aufgehört hatte zu essen.

Ophelia wusste, dass Tabea nach ihr ins Waisenhaus gekommen war, es ging das Gerücht um, dass ihre Schwester höchstpersönlich erst ihre Eltern umbrachte und dann sich selbst.

Tabea hatte sich vergleichsweise schnell mit Sophie und Luise angefreundet ... und dann eines morgens hatte sie ihren Haferbrei nicht mehr angerührt.

Ihr Löffel war verklebt von dem Brei, aber sie hatte ihn nicht ein einziges mal in den Mund genommen. 

Und danach wurde es nicht mehr besser.

Ihr Haar verlor jeglichen Glanz, ihre Fingernägel wurden brüchig und Tabea verlor Kilo um Kilo.

Jetzt war Tabea tot.

Ophelia fragte sich, wie lange sie ohne die Mithilfe des Messers noch überlebt hätte.
Sie fragte sich, ob Tabea es jemals geschafft hätte, aus diesem Loch wieder hinauszukommen.

Aber es war zu spät: Die Möglichkeit war ihr genommen worden.

Sie hatte darum gebeten, diese Chance weggenommen zu bekommen. Tabea hatte bekommen, was sie gewollt hatte.

.-.-.-.-.

Das Abendessen war nichts besonders.

Es gab grob zermatschte Kartoffeln, vermischt mit einer Soße, die nach Hackfleisch schmeckte.

„Ich glaube das soll Auflauf sein.", meinte Luise matt. Sie saß dort wie ein Häufchen Elend, ihr Blick wanderte zwischen dem Essen und Tabeas leerem Stuhl hin und her.

„Immerhin haben wir noch uns!", meinte Sophie, ungewohnt sanft.

Luise nickte, sah Sophie nicht einmal in die Augen, was Sophie dazu brachte sich pikiert wieder ihrem Essen zuzuwenden.

Allerdings tat sie das nur für eine kurze Zeit: „Wie geht es James, Ophelia?"

„Normal.", antwortete Ophelia, ihre Hand verkrampfte sich um das Messer.

„Er scheint mich zu mögen.", log Sophie, betrachtete genau Ophelias Gesichtsausdruck.

„Ach ja?"

„Ja, er ... redet dauernd mit mir und hat mir sogar gesagt, dass er mich sehr gerne mag."

„Wann?", fragte Ophelia, ihre Hand entspannte sich nicht, ihre Gesichtsmuskeln schon.

„Eben, nach der Versammlung."

„Aha.", sagte Ophelia, schaffte es jetzt Sophie anzulächeln. „Du hast dir dieses Geschehen zwar nur eingebildet, aber es freut mich für dich, dass deine Gedankenwelten dir solch eine Freude bereiten."

Sophies Lächeln gefror. 

„Hör zu: Ich weiß, dass du dich extrem einsam fühlst und das einzige was dir noch bleibt das beleidigen und verletzten anderer Leute ist, aber denk bitte daran, dass du nicht der einzige Mensch in diesem Waisenhaus bist dem es nicht besonders gut." 

„Du sagst, ich bin egoistisch.", meinte Sophie mit zusammengekniffenen Augen.

„Deine Worte. Nicht meine.", erwiderte Ophelia. „Es ist wie ein Gedicht, weißt du? Man kann es immer verschieden interpretieren."

„Natürlich.", sagte Sophie gedehnt, schob ihren Stuhl zurück und stand langsam auf. „Natürlich."

Ophelia legte ihr Besteck zur Seite, ihre Muskeln spannten sich an, als Sophie auf sie zu lief.

Zuerst lief alles wie in Zeitlupe, Sophie blieb hinter Ophelia stehen, die drehte sich nicht um.

Und dann schlang Sophie ihren rechten Arm blitzschnell in einer einzigen flüssigen Bewegung um Ophelias Hals und drückte zu. 

Ophelia stieß ihren Stuhl nach hinten, sprang auf, schaffte es, Sophie so weit zur Seite zu schieben, dass ihr Hals wieder frei lag.

„Wir wissen alle, dass du tot sein solltest!", schrie Sophie, ihr Gesicht lief rot an. Die Wut flammte in ihren Augen auf wie ein Feuer in der Nacht.

Sie ballte ihre rechte Hand zur Faust, stieß sie nach vorne, Ophelia schlug sie mit ihrem linken Arm zur Seite und traf Sophie mit ihrer eigenen rechten Hand am Kinn. 

„Ach ja, wissen wir das?", sagte Ophelia scharf.

Dieses mal schaffte Ophelia es nicht rechtzeitig, Sophies Schlag abzublocken.

Die Ohrfeige hallte so laut durch den Raum, als wäre sie verstärkt worden durch tausende Mikrofone.

Ophelia fasste ungläubig an ihre Wange, Sophie zögerte nur wenige Augenblicke, bevor sie mit einem weiteren Aufschrei nach vorne sprang und Ophelia zu Boden drückte.

Luise sprang hektisch auf, Manare ebenfalls.

Es waren so viele, die durcheinander schrien – Noctana verstand kein Wort mehr. Es rauschte alles.

Von allen Tischen liefen jetzt Leute auf sie zu, brüllten weitere Worte, die doch nur in dem Lärm verschwammen.

Luise und Wyatt packten Sophie an den Armen, Ophelia richtete sich sofort auf.

„Alles okay?", frage irgendjemand an Ophelia gewandt, Noctana konnte die Stimme nicht genau erkennen, obwohl sie sich sicher war, dass sie sie schon einmal gehört hatte.

„Mir geht es wie immer.", antworte Ophelia und hielt sich die schmerzhaft pochende Wange. „Sophie trifft nicht besonders gut."

Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now