Kapitel 71.

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Die Treppe im Lacrim Waisenhaus, die das Erdgeschoss mit dem ersten Stock verband, hatte noch nie jemanden umgebracht.

Und doch verspürte fast jeder, der die steilen Stufen hinunterlief, ein leichtes oder stärkeres Gefühl von Angst.

James lief als erster die hölzerne Treppe hinab, hinter ihm Ophelia und Wyatt bildete das einsame Schlusslicht.

Niemand von ihnen dachte daran, sich eine Jacke überzuziehen.
Sie durchquerten eilig den Flur und James zog die Tür auf: „Nach euch."

„Es fühlt sich immer verrückt an, das Haus zu verlassen.", murmelte Wyatt, als die kalte Luft anfing, seine Lunge zu durchströmen. 

„Es hat etwas trostloses, oder? Wir verlassen den Ort des Terrors und sehen den Zaun: Sehen noch einen Grund, weshalb wir hierbleiben müssen.", meinte Ophelia und drehte sich zu den anderen beiden um.

„Habt ihr jemals darüber nachgedacht, einfach zu ... verschwinden? Einfach durch den Zaun zu gehen?", fragte James.

„Natürlich. Aber das würde sich anfühlen wie Verrat: Denn das Spiel würde weiterlaufen und wenn deine Rolle gebraucht würde, wenn du mit deiner Rolle vielleicht irgendwie irgendein Leben retten könntest ...", Ophelia beendete ihren Satz nicht mit Worten, sondern einer ausschweifenden Handbewegung. 

„Moment kurz", sagte Wyatt plötzlich und blieb ruckartig stehen, sah Ophelia mit großen Augen an: „Du hast die Aufzeichnungen gelesen!"

„Ja?", sagte Ophelia.

„Du kennst die Rollen, oder?", flüsterte Wyatt.

Ein scharfer Windstoß fuhr um das Waisenhaus herum, ließ sie alle ein wenig zur Seite stolpern. Ophelia wischte sich die Haare aus dem Gesicht und sah Wyatt dann mit festem Blick an: „Ja. Ja, ich kenne alle Rollen, Wyatt."

„Es tut mir leid.", war das nächste, was Wyatt von sich gab, die braunen Augen glänzten verzweifelt.

Der Wind frischte weiter auf, die grauen Wolken über ihnen zogen schneller und schneller weiter.

„Wollten wir nicht zum Zaun?", fragte James angespannt.

Ophelia nickte, wandte sich von Wyatt ab und sie beide liefen wieder zu James.

Die ersten Regentropfen fielen auf sie hinunter, das Gras erzeugte mithilfe des Windes ein leichtes, rauschendes Geräusch.

„Ich vermisse das hier.", sagte James.

„Was genau jetzt?", fragte Ophelia.

„Wind. Gras. Einfach ... das Leben.", antwortete er und sah zum Himmel. Ein paar kleine Regentropfen verfingen sich in seinen Wimpern.

Sie erreichten den Zaun.

Das dunkle Metall sah aus wie immer, die fast furchterregenden Muster waren an den gleichen Stellen wie sonst auch, aber trotzdem schien der Zaun anders auszusehen. Er hatte etwas versprechendes: Er brachte ihnen die Hoffnung auf neue Hinweise.

Die Hoffnung auch noch etwas anderes, was sie in irgendeiner Weise aus diesem Spiel retten konnte.

„Hier ist der Anfang des Spiels, oder?", sagte James und legte seine rechte Hand auf eins der Metallmuster. Zu sehen war etwas anscheinend menschliches, in den Händen ein Pfeil mit Herz an der Spitze.

„Der Amor.", wisperte Ophelia, sah auf die beiden schmenenhaften Gestalten, auf die der Amor seinen Pfeil schießen würde.

Eine Person war teil der Werwölfe, die andere Teil der angeblich guten.

Sie erinnerte sich an die zweite Nacht: An Carlas Gesichtsausdruck, als James und sie sich ihre Karten zeigten.

Die gemischten Gefühle, die sie durchströmt hatten: Einerseits diese furchtbare Angst, die Gewissheit, durch die neue Verbindung sofort sterben zu würden.
Aber dann war dort noch dieses kleine etwas ... etwas, was vielleicht als Freude hätte definiert werden können. Nur, dass es nicht wirklich Freude gewesen war.

„Carla.", flüsterte James so leise, dass Ophelia es nur knapp verstehen konnte. Wyatt hingegen hörte nur noch etwas, was an ein Seufzen erinnerte: „Was?"

„Nichts.", meinte James und blickte weiter den Zaun entlang.

Eine kleine Gruppe war zu erkennen – sie sahen allerdings nicht besonders gefährlich aus, was vielleicht auch an dem hellen Teil des Yin-und-Yang Zeichens über ihren Köpfen lag.

„Wer sind die?", fragte Wyatt und sah zu Ophelia.

„Die Gebundenen.", antwortete Ophelia und deutete dann auf die Gruppe daneben, über deren Köpfen der andere Teil des Zeichens hing. „Und das hier sind die Seelen-Wölfe.
Stirbt einer der Gebundenen, werden die anderen zu Werwölfen.
Stirbt einer der Seelen-Wölfe, werden die anderen zu Neutralen. Allerdings habe ich das Treffen der Seelen-Wölfe nicht in den Protokollen gesehen. Ich glaube also nicht, dass jede einzelne Handlung hier abgebildet ist, sondern einige ersetzt wurden.
Der Giftmischer fehlt zum Beispiel."

„Woher weißt du das jetzt so genau?", fragte James. Ophelia tippte auf das bemerkenswert detaillierte Metallauge, das über der nächsten Person hing: „Weil das hier die Seherin ist. Und davor kam eigentlich der Giftmischer."

„Das heißt, hier sind nur die ... Grundbausteine.", sagte James und ging einen Schritt weiter, guckte auf die nächsten Zeichen und Figuren. „Wer ist das hier?"

„Tabea.", antwortete Ophelia. „Die Schlafwandlerin, die den Verdacht unabsichtlich auf sich lenkt."

„Vermisst du sie?", fragte James leise.

„Nicht so sehr wie Lena.", erwiderte Ophelia und schluckte heftig. „Warte mal, seht ihr das hier?"

„Den Vogel, meinst du?", fragte Wyatt mit hochgezogenen Augenbrauen. „Sieht irgendwie bescheuert aus: Ich dachte die einzigen Tiere im Spiel wären Wölfe?!"

„In Runde eins gab es noch die Elster. Sie wurde dann aber von der Hexe umgebracht.", erklärte Ophelia.

„Was ist eigentlich mit unserer Hexe?", fragte Wyatt.

„Tot. Im Protokoll stand nicht wie sie genau gestorben ist. Die Notiz der Spielleiterin lautete: Hexe tot.", meinte Ophelia.

„Wer war denn Hexe?", fragte James und drehte sich vom Zaun weg.

„Erin.", antworte Ophelia knapp.

Wyatt musste kurz überlegen, wer genau Erin überhaupt gewesen war und sagte dann knapp: „Die mochte ich nicht."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now