Kapitel 9.

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„Glaubst du, dass ich auch so eine ... Störung entwickeln werde?", fragte Noctana mit belegter Stimme.

„Ja.", antwortete Ophelia direkt. „Das heißt: Eigentlich weiß ich es nicht. Das Spiel geht los, niemand von uns weiß genau, wie es abläuft. Also weiß auch niemand von uns genau, was es für Folgen haben wird."

„Warte.", unterbrach Noctana sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Die Spielleiterin hat gesagt, dass es Überlebende-"

„Es gab Überlebende, das stimmt.", sagte Ophelia gedehnt. „Aber – sagen wir es so: Sie wurden gewissermaßen verstoßen."

„Ihr habt sie umgebracht.", stellte Noctana fest und wich einen Schritt von Ophelia zurück.

„Als ich hier ankam, gab es sie schon nicht mehr. Es kursieren viele Gerüchte.", ergänzte Ophelia schnell. „Ich denke, die Spielleiterin hat sie beseitigt. Damit wir nicht schon im Vorfeld wissen, wer zu den Werwölfen gehört."

„Dann hat die Spielleiterin sie ermordet!"

Ophelia seufzt genervt: „Sie ist keine Mörderin, ich weiß gar nicht, ob sie jemals selbstständig jemanden umgebracht hat. Sie manipuliert uns nur jedes mal wieder erfolgreich und dabei wird sie immer besser. Und jetzt hör endlich auf darüber zu reden. Bitte."

„Aber-"

„Nein.", unterbrach sie Ophelia. Dieses mal wich Noctana nicht vor ihr zurück, obwohl sie es gerne getan hätte. Ophelia klang nicht mehr genervt, sie klang fast wütend: „Du hast keine Ahnung, wie schlimm es hier ist! Stell dir vor, du bist seit Wochen, seit Monaten in diesem Irrenhaus und musst hier leben! Am "Spezialunterricht" teilnehmen. Und dann kommt irgendeine Neue und zwingt dich, ihr all das zu verraten, was du wenigstens ein mal fast verdrängen konntest! Also: Nein."

Noctana schluckte und kniete sich dann wieder vor ihre Reisetaschen: „Also ... was ist jetzt mit den Klamotten?"

„Wir färben sie.", meinte Ophelia schlicht.

„Warte, was?!"

„Wir färben sie. Unten, im Keller, gibt es eine Art riesige Wanne, voller grauer Farbe, vermischt mit Wasser und seltsamen chemischem Zeug. Wenn du deine Klamotten da eine Weile drinlässt, sind sie danach grau.
Das Schöne daran: Je heller der Stoff, desto heller der Grauton. Das heißt, deine Garderobe wird sogar vielfältig gefärbt.", erklärte Ophelia. Ihr falsches Lächeln erinnerte Noctana an das von Wednesday Addams, aus dem Film von 1993.

„Toll.", kommentierte Noctana Ophelias Worte und nahm ihr Lieblings T-Shirt in die Hand. Es war hellviolett und bestand aus weicher Wolle.

„Wenn du das noch tragen willst, musst du es färben.", sagte Ophelia. „Es tut mir leid. Aber da mussten wir alle durch. Ich hatte wenigstens ein weißes T-Shirt, einige schwarze Hosen und T-Shirts, andere hatten viele weiße und sehr helle graue Sachen, das bringt noch mehr Abwechslung rein. Hast du irgendetwas ...?"

„Nein.", flüsterte Noctana. Woher hätte sie das alles auch wissen sollen?!

Es war noch nicht so lange her: Vor wenige Stunden hatte sie ihr altes Waisenhaus verlassen. Unglücklich, aber unversehrt.

Unversehrt und unglücklich war sie theoretisch gesehen immer noch – aber jetzt hatte sie außerdem Angst.

Richtige Angst, nicht das typische Lampenfieber.

Sie hatte innerhalb weniger Minuten Angst um ihr Leben bekommen.

.-.-.-.-.

Noctana stand vor einer dreckigen Badewanne, die auf schlanken Metallfüßen thronte, von denen die goldene Farbe schon abblätterte.
Das leise Schwappen des grauen Wassers hallte von den dreckigen Steinwänden wieder.

Über die Decke zogen sich Rohre, zwischen einigen Holzbalken lagen tote Vögel. In den Ecken hingen Spinnennetze.

„Du musst die Sachen hineinwerfen.", erinnerte Ophelia sie, die rechts neben ihr stand. Links war die Tasche mit ihren Klamotten.

Noctana nickte und nahm eine hellblaue Jeans, ließ sie langsam in das Wasser gleiten. Kurz zog sie sie zitternd wieder hinaus – von den Hosenbeinen tropfte graues Wasser.

Noctanas Hand fing an zu zittern. Was machte sie hier eigentlich?

„Noctana.", hörte sie Ophelias scharfe Stimme. „Noctana, lass los."

Noctana schloss die Augen, hörte das leise Platschen als die Hose in der wässrigen Farbe versank.

Ophelia hielt ihr das nächste Kleidungsstück hin, aber Noctana nahm es nicht. Stattdessen vergrub sie die Arme in der Tasche, holte so viele Sachen wie möglich heraus und warf sie alle ohne hinzusehen in die Wanne.

Das tat sie ein zweites mal. Ein drittes mal.

Ein letztes mal griff sie in die fast leere Tasche, sie erkannte den Stoff ihres Lieblings T-Shirts. Tränen stiegen ihr in Augen.

Es waren nur Klamotten, sagte sich Noctana. Es war egal. Klamotten waren nichts wichtiges.

Doch Ophelia riss das violette T-Shirt aus dem Haufen, bevor die restlichen Sachen in die graue Farbe fielen.

„Warum-", machte Noctana mit erstickter Stimme und deutete auf das T-Shirt.

„Behalte es. Du darfst es nicht anziehen, aber ... behalte es.", wisperte Ophelia. „Ich glaube, wir alle haben eine Sache behalten. Ein Kleidungsstück, das wir nicht gefärbt haben."

„Aber das ist-"

„Gegen die Regeln, ich weiß. Versteck es ganz hinten im Schrank. Erwähne es niemals, keinem Gegenüber.", schärfte Ophelia Noctana ein. „Hast du das verstanden?"

„Ja.", hauchte sie. „Danke."

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Es ist immer noch Tag, und das wird auch noch für einige Zeit so bleiben, aber nicht mehr lange ...

Übrigens habe ich heute erst den genauen Verlauf der ersten Nacht geplant und ... sagen wir's so. Ich hatte von Anfang an eine Idee, wie ich die erste Nacht aufbaue, aber es wird dann doch mehr Tote geben als gedacht.

Sowieso wird das ganze sehr ... abenteuerlich und es kommen einige Rollen, die es in dem echten Spiel nicht gibt ...

Mehr sag ich nicht.

Aber habt ihr vielleicht irgendwelche Theorien, was in der ersten Nacht passieren könnte? Oder was für zusätzliche Rollen, die sonst dabei sind, ich weggelassen habe?



Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now