Kapitel 3.

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„Guten Morgen.", sagte die Frau, die auf der Schwelle stand. Ihre Stimme klang undefinierbar. 

Vielleicht versuchte sie, freundlich zu klingen, aber das tat sie absolut nicht. Noctana wich unwillkürlich einen kleinen Schritt vor ihr zurück.

„Guten Morgen.", wiederholte Mr Reginald, seine Stimme klang unbestreitbar freundlich und bildete einen harten Kontrast zu der der Frau. „Ich bringe ihnen ihre neuste ..."

Was sollte er sagen, fragte sich Noctana. Was war sie hier? Fremde? Tochter?

„Du bist also Noctana. Wie lautet dein Nachname?", fragte die Frau. Sie war groß, bemerkte Noctana. Mindestens ein Meter achtzig.

„Taylor.", antwortete Noctana. „Noctana Shirin Taylor."

„Oh, ein Zweitname.", bemerkte die Frau und schaffte es dabei weiterhin, ihre Stimme vollkommen emotionslos klingen zu lassen. „Ich glaube, wir haben hier noch eine Shirin."

„Kann sein. Dreißig Kinder in einem Waisenhaus sind ziemlich viele.", rutschte es Noctana heraus. Sie biss sich auf die Zunge. 

„Wie bitte? Warum sind es viele Kinder?", fragte die Frau. Noctana war sich fast sicher, dass ihre Stimme anfing, herausfordernd zu klingen.

„Na ja ... in meinem letzten Waisenhaus waren wir fünfzehn. Das heißt, jetzt sind es nur noch zehn.", erzählte Noctana nüchtern. Immerhin hatte sie nicht als einzige ausziehen müssen.

„Hier sind wir dreißig. Fünfzehn Jungs, fünfzehn Mädchen."

„Wow. Das ist echt exakt!", stellte Noctana fest.

„Ja, das ist es. Ich mag Exaktes.", meinte die Frau und wandte sich dann dem Fahrer zu. „Mr Reginald! Schön, sie wiederzusehen! Wie geht es ihnen?"

„Gut, gut. Ihnen?", sagte Mr Reginald. Die Frau ging nicht darauf ein: „Komm rein, Noctana. Wir haben dir noch etwas Frühstück übrig gelassen."

Der Fahrer gab Noctana noch den zweiten, schwereren Koffer, den er zuvor aus dem Kofferraum geholt und bisher getragen hatte. Noctana nahm ihn entgegen, bedankte sich und verabschiedete sich von ihm.

„Auf wiedersehen!", rief die Heimleiterin, Mr. Reginald nickte ihr kurz lächelnd zu.
Noctana sah dem alten Mann noch nach, bis er wieder von dem Grundstück verschwunden war. Hinter ihm warf der Wind das Tor zu, aus der Ferne hörte sie bald das gedämpfte Tuckern des Motors.

„Kommst du bitte herein, Noctana? Es ist ein wenig kühl draußen.", sagte die Frau. Noctana zuckte unwillkürlich zusammen und trat in das Haus.

Zu ihrer Überraschung stand sie in einem kleinen, holzvertäfelten Flur. Sie hatte mit einem grau gestrichenen Raum gerechnet.

Links von ihr führte eine schmale Treppe, die ebenfalls aus dem honigfarbenem Holz bestand, nach oben. Rechts hingen mehrere Jacken an schmalen Metallhaken. Keine von ihnen war farbig.

„Das ist der Flur.", erklärte die Heimleiterin, die sich immer noch nicht namentlich vorgestellt hatte. 

„Cool.", sagte Noctana, die das Gefühl hatte, die Stille irgendwie bezwingen zu müssen. 

„Stell deine Koffer hier ab. Und zieh dir die Schuhe aus. Bitte.", befahl die Frau, die Hände hinter dem margeren Rücken verschränkt.

Noctana gehorchte, stellte die Koffer und ihre Schuhe an die Seite. 

„Gut. Komm bitte mit.". Die Heimleiterin lief geradeaus durch einen Türbogen in einen weiteren Raum. Er war deutlich größer als der Flur und die Wände waren wieder mit Holz verkleidet.
Aber es war dunkler darin. Es gab nur zwei kleine Fenster, beide waren mit dünnen, schwarzen Vorhängen verdeckt.

In der Mitte waren Stühle in einem Kreis aufgestellt. Es waren genau dreißig, aber das bemerkte Noctana nicht.

„Hier essen wir.", erklärte die Heimleiterin und holte einen kleinen Schlüssel aus der Tasche ihrer verblichenen Strickjacke. 

Noctana verbot es sich, ein zweites mal „Cool" zu sagen und nickte nur, als Zeichen, dass sie das verstanden hatte. 

Die Frau drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür an der Rückseite des Raumes auf.

„Das hier ist mein Büro.", sagte sie und hielt Noctana die Tür auf. „Tritt ein."

Noctana betrat zögernd den dunklen, fensterlosen, komplett mit Büchern vollgestopften Raum. Die kleine Lampe an der Decke warf alles in ein fahles, gelbliches Licht.

„Setz dich.", meinte die Heimleiterin und deutet auf einen ungemütlichen Holzstuhl.
Sie selbst nahm Noctana gegenüber hinter dem Schreibtisch platz.

„Fangen wir mit dem wichtigsten an.", sagte sie und griff in eine Schublade ihres Schreibtisches. Hervor holte sie ein quadratisches, flaches Etui.

Auf dem silbrig glänzenden Deckel prangte ein Kreis in dem zwei Buchstaben standen: NT

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Fun Fact am Rande: Zuerst habe ich dreißig mit Z geschrieben. Keine Ahnung warum.

Was haltet ihr von der Heimleiterin?

Was glaubt ihr ist ihr Name?

Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt