Kapitel 29.

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Noctana wachte auf.

Eigentlich war sie vorher bereits wach gewesen – aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen.

In ihrem Kopf schwirrten Überreste eines Traumes herum, aber Noctana konnte die Puzzlestücke nicht mehr richtig zusammenlegen.

Im Gegenteil – desto länger sie darüber nachdachte, desto schneller entglitten sie ihr ... und schließlich schlug sie die Augen auf.

Es war später, als in der letzten Nacht. Zwanzig Minuten nach zwölf.

Sie hatte bereits etwas verpasst ... aber was?

Den Auftritt des Amors! Das war nicht schlimm, das war eine der unverfänglichen Sachen der Nacht, eine ohne jeglichen Schrecken.

Dachte sie zumindest.

Diese Nacht zögerte sie nicht, sondern verließ direkt ihr Zimmer und setzte sich vor Raum null.

Dann erst fiel ihr ein, dass das viel zu riskant war und sie versteckte sich wieder hinter dem Treppenabsatz.

Lange Zeit geschah nichts. 

Hin und wieder knackte der alte Holzboden oder Noctana hörte ein leises Hämmern - vermutlich war das Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug.

Die Gruppe, die sich gestern getroffen hatte erschien nicht. Im Jungsflur klappten auch nicht wieder irgendwelche Türen auf.

Langsam fragte Noctana sich, ob in dieser Nacht überhaupt irgendetwas passieren würde – vielleicht war das Spiel abgebrochen worden und sie hatte es einfach nicht mitbekommen?

Aber dann hörte sie, wie sich im Mädchenflur eine Tür öffnete. Kurz darauf lief Ophelia an ihr vorbei und zog eine Tür im Jungsflur auf.

Wessen Karte wollte sie sich ansehen?

Es dauerte nicht lange, bis Ophelia zum zweiten Mal an ihr vorbeilief. Trotz des fast nicht vorhandenen Lichtes glaubte Noctana, Ophelias gerunzelte Stirn erkennen zu können.

Welche Karte es auch war – sie hatte sie verwirrt, oder zumindest zum Nachdenken gebracht.

„Ophelia!", wisperte Noctana. Warum sie so leise redete wusste sie eigentlich gar nicht – es war doch niemand wach, oder?

Doch Ophelia reagierte nicht, vielleicht hatte sie sie nicht gehört, vielleicht wusste sie aber auch etwas, von dem Noctana keine Ahnung hatte und wollte nicht darüber reden.

Wieder vergingen die Minuten, schließlich tauchte Nolan auf.

Der Wächter.

Er sah sich unsicher um, als wüsste er genau, dass er beobachtet wurde.

Schließlich lief er in den Mädchenflur, Noctana verlor ihn aus den Augen. Kurz überlegte sie, gab sich aber einen Ruck und rutschte etwas vorwärts um ihn wieder sehen zu können – im Endeffekt stand sie fast mittig in dem schmalen Flur.

Würde Nolan sich hektisch umdrehen, würde sie sich nicht verstecken können.

Der Wächter blieb zu Noctanas Überraschung vor ihrem Zimmer stehen und hob die Hand. Schütze er sie?

Oder schütze er Ophelia?

Sie überlegte, ob sie irgendwie anfangen würde, weiß zu leuchten, sollte sie diejenige sein, die geschützt werden sollte.

Doch es passierte nichts.

Vielleicht war es doch Ophelia – schließlich war sie die Neue, wer würde sie schon schützen? Die Meisten hier kannten möglicherweise noch nicht mal ihren Namen!

Die Tür leuchtete wie auch in der vorherigen Nacht hell auf, Nolan wartete mit seiner Rückkehr nicht bis das Leuchten abgeklungen war, sondern lief schnell zurück.

Zu schnell.

Er sah Noctanas Silhouette und blieb abrupt stehen, während Noctana hektisch zurück sprang und sich schwer atmend gegen die Wand drückte.

Nolan sah unschlüssig und zitternd in die Dunkelheit. Wer war das? Wen oder was hatte er gesehen?

Noctana schloss die Augen, sie spürte Schweißtropfen ihre Stirn hinunterlaufen. Ihr Herz klopfte.

Natürlich, Nolan war nicht gefährlich. Aber was wenn er denken würde, dass sie es war? Oder er ... eine Art Verräter war?

Noctana gab eine seltsame Version eines Winselns von sich. Sollte sie vielleicht ins Erdgeschoss gehen?

Aber als sie die steile Holztreppe hinuntersah, verwarf sie den Gedanken sofort wieder.

Der Flur erschien ihr wie eine schwarze Höhle. Hier oben fühlte sie sich fast sicher, im Vergleich zu -

In dem Moment hört sie ein lautes Rumpeln und ein überraschtes Keuchen. Ganz langsam, ganz vorsichtig lugte Noctana hinter ihrer Ecke hervor.

Ein Mädchen – Tabea? - lief mit seltsam ausgestreckten Armen und weit aufgerissenen, leblosen Augen an Nolan vorbei.

Das schien wieder Leben in Nolan zu bringen, jedenfalls lief er Tabea hinterher, fast schon fasziniert.

Als er an Noctana vorbeilief hatte er ihren Schatten scheinbar vergessen, denn er drehte den Kopf nicht einmal ansatzweise in ihre Richtung.

Tabea wendete wieder und Noctana befürchtete schon, dass Nolan ihr wieder zurück folgen würde, aber er schüttelte nur den Kopf und verschwand in seinem Zimmer.

Noctana atmete erleichtert aus und lief zurück zu dem Treppenabsatz, versteckte sich wieder dorthinter.

Es konnte weitergehen.


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now