Kapitel 26.

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Noctana hatte das Gefühl, als würden sie alle anstarren. In dem Moment, als sie hinter Ophelia den Versammlungssaal betrat, schienen sich alle Blicke auf sie zu richten.

„Weitergehen.", murmelte Wyatt hinter ihr. Noctana zuckte leicht zusammen und setzte sich schnell neben ihre Zimmermitbewohnerin.

„Kann es sein, dass mich alle ansehen?", wisperte sie ihr leise zu. Ophelia schüttelte unmerklich den Kopf.

„Glaubst du, sie wissen wer ich- AU!"

Jetzt wendeten sich wirklich einige Noctana zu, allerdings nur um sich kurz darauf wieder ihren eigenen Gesprächen an ihren eigenen Tischen zu widmen. 

„Was ist denn?", zischte Noctana Ophelia, die mit ihrem Ellbogen hart gegen eine von ihren Rippen gestoßen war, zu.

„Was ist denn los?", fragte Sophie und musterte die zwei kritisch. Jetzt wurde Noctana nervös.

„Etwas unglaublich interessantes.", meinte Ophelia.

„Ich kenne deine Psychotriks, Ophelia! Warum hat Noctana gerade „Au" gerufen?!"

„Sie hatte Spezialunterricht.", meinte Ophelia seelenruhig. Noctana bewunderte sie für diese Ruhe – bis sie bemerkte, dass Ophelia zitterte.

So viel zu der angeblichen Ruhe.

Sophie schloss ihren Mund, den sie bereits für die nächste Bemerkung geöffnet hatte.

„Wer glaubt ihr stirbt heute?", fragte Manare leise.

„Die Frage ist wohl eher, wie viele.", meinte Sophie. „Sieben waren schon ... nicht wenige."

„Wie lang glaubt ihr dauert das Spiel?", fragte Tabea.

„Bis nur noch eine Partei übrig ist."

„Ja, klar. Aber: Wie lange glaubst du, dauert das?"

Sophie wendete den Kopf und sah Noctana direkt in die Augen. Noctana zuckte überrascht zusammen.

Sie hatte nichts gesagt, nichts gemacht. Warum sah Sophie sie so an?

Wusste sie es? Kannste sie Noctanas Rolle?

„Ich weiß nicht.", meinte Sophie dann und wandte ihren Blick wieder ab.

~~~~

„Hey, Feely!"

Ophelia fuhr herum, Noctana, die mit gesenktem Blick hinter ihr gelaufen war knallte fast mit ihr zusammen.

James drängte sich zwischen Marten und Nolan hindurch: „Wir treffen uns wieder in der Bibliothek. Genau wie gestern."

„Warum?", fragte Ophelia. „Wir haben uns noch nie zwei Tage hintereinander-"

„Ich weiß.", unterbrach James sie. „Aber ... wir sind Freunde, das hast du hoffentlich bemerkt. Und wir haben gesehen, wie schnell man momentan seine Freunde hier verlieren kann. Deshalb ist jeder Moment wertvoll und wir sollten die Zeit schät-"

„Hör auf damit.", meinte Ophelia.

„Was?"

„Entschuldigung, aber du klingst wie ein schlechter Poet.", antwortete sie. Die Worte klangen längst nicht so hart, wie sie zuerst erschienen. James lächelte, Ophelias Mundwinkel zogen sich ebenfalls nach oben.

„Ich fand, das klang weltbewegend.", log James. „Kommt ihr denn gleich?"

„Natürlich.", meinte Ophelia und sah zu Noctana, die hastig nickte. „Schließlich sind wir morgen vielleicht alle tot."

Sie lief an James vorbei, in Richtung Treppe.

„Übrigens:". Ophelia drehte sich wieder um und Noctana hielt sich dieses mal am Treppengeländer fest, um nicht zu stolpern.

„Deine Gedichte würde ich auch nicht lesen.", meinte James und lehnte sich gegen die Wand.

„Ach ja?"

„ ... wär mir zu ehrlich.",

„Nur die schlechten Poeten verschleiern die Wahrheit. Heißt es nicht so?"

„Ich glaube, so heißt es nicht ganz."

„Hm.", machte Ophelia. „Vielleicht sollte es aber so sein."

„Vielleicht. Die Leute haben gerne Hoffnung."

„Vielleicht sollten sie aufhören, an den falschen Stellen zu hoffen. Wir sehen uns."

~~~~

Es wurde eine traurige Versammlung in der Bibliothek.

Sie saßen dort und betrachten die leeren Plätze.

Noctana hatte die Toten nicht gut gekannt, aber sie hatte sie ins Herz geschlossen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Lenas Lächeln, als sie sie das erste Mal gesehen hatte.

Sie war der Sonnenschein des Waisenhauses gewesen. Zurück blieben nur dunkle Wolken.

Noctana wollte sich gar nicht vorstellen, wie sehr die anderen sie vermissen mussten.

Sie konnte es sich nicht vorstellen.

„Sollen wir vielleicht über irgendetwas glückliches reden?", fragte Manare irgendwann.

„Wenn dir etwas einfällt: Nur zu.", erwiderte Ophelia.

„Vielleicht ist es besser so für sie.", sagte Wyatt plötzlich, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Was?"

„Lena ... ihr habt sie gekannt. Wäre sie eine Wetterlage, wäre sie der Sonnenschein.

Wäre sie eine Blume, würde sie eins dieser Gänseblümchen sein.

Wäre sie ein Gewürz, wäre sie Zucker.

Eine Farbe? Gelb."

„Vielleicht ist er unser Poet.", wisperte James Ophelia zu.

„Sie war hier unglücklich, wisst ihr? Aber sie konnte sich immer an etwas festhalten. Als wir neu hier waren, da -", Wyatt stockte kurz und fuhr schließlich mit brüchiger Stimme fort: „Wir betraten das Gelände. Ihr wisst, wie trostlos es hier aussieht. Und Lena?

Lena hat eine Blume gefunden. Sie hat eine Blume gefunden, die dicht an der Hauswand wuchs. Sie hat sie nicht gepflückt und auch nie wieder gesehen, aber sie hat mir immer wieder davon erzählt, mir gesagt, dass alles gut wird: Weil sie eine Blume gefunden hatte.

Aber dieses Spiel – hier gibt es keine Blumen mehr, wisst ihr? Sie hätte nichts mehr finden können. Und deshalb ... vielleicht ..."

Wyatt brach ab.

Sie wussten auch so alle genau, was er meinte.

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Rip Lena, an dieser Stelle.

Ich freue mich schon auf die zweite Nacht und noch mehr auf den zweiten Tag, obwohl ich noch nicht einmal die Nacht fertig geschrieben habe :-)

Habt ihr Theorien, wie es weitergehen wird, wer noch sterben wird oder was generell noch passiert? :-)



Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt