Kapitel 49.

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Die Nacht kam zurück, niemand hieß sie willkommen.

Die glitzernden Punkte, Licht von möglicherweise längst erloschenen Sternen, der leuchtende Mond - alles lag unter einer dichten Wolkendecke.
Selbst wenn die Nacht Sternenklar gewesen wäre, hätte keine der Bewohnerinnen und auch keiner der Bewohner des Lacrim Waisenhauses, aus den schmalen Fenstern geguckt.

Die Schönheit der Nacht wurde von ihrem Grauen verdrängt.

Noctana lag in ihrem Bett und starrte an die Decke.

Es war fast neun Uhr – die Müdigkeit fing an, ihre Gedanken wie Kleber zu umhüllen, ihre Augen zuckten.

Noctana wandte den plötzlich so schweren Kopf, sah zu Ophelia, die ebenfalls starr an die Decke sah.

Bitte stirb nicht, dachte Noctana. Sie wollte die Worte aussprechen, aber ihre Zunge war so schwer wie ein Eimer voller Steine, festgeklebt an einer der viel zu vielen Autobahnen.

Gute Nacht, meldete sich diese andere Stimme sanft in ihrem Kopf. Freust du dich?

Nein, dachte Noctana. Nein.

Du warst doch so fasziniert von dem Spiel! Wo ist dieses Gefühl denn hin? Sehnst du dich nicht danach? Sieh die Nächte doch als Abenteuer!

Nein, wiederholte Noctana, in ihren Gedanken schrie sie das Wort schon fast.
Laut und noch lauter, sodass es die Stimme verdrängte.
Immer und immer wieder.

Bis sie einschlief.

Wir wollen dich nicht!"

Ihre alte Heimleiterin verschränkte die Arme, die Kälte in ihren sonst immer so herzlichen Augen ließ Noctana zittern, fröstelnd rieb sie sich über die mit Gänsehaut überzogenen Arme.

Von hinten wurde sie mit etwas beworfen, erschrocken fuhr sie herum.

Ein kleiner Junge mit hellbraunen Haaren. Er grinste sie an, zwischen seinen Schneidezähnen prangte eine große Lücke, die Grübchen unterstrichen das freundliche Leuchten seiner Augen.

Der Junge beugte sich herunter, wühlte in dem gräulichen Schnee – und als er aufstand war er älter geworden, aber seine dünne weiße Jacke schien irgendwie mit ihm gewachsen zu sein, sie passte jedenfalls immer noch wie angegossen.

Noctana spürte, wie sie lächelte. Das war Wyatt, oder?

Hey!", rief er, sie hob die Hand. Ob sie winken oder sich darauf vorbereiten wollte, den Schneeball abzuwehren wusste Noctana nicht wirklich.

Wyatt warf den Schneeball, er verfehlte Noctana mit weitem Abstand. Aber hinter ihrem Rücken hörte sie ein Kreischen, das sich schnell in ein fröhliches Lachen verwandelte.

Das Mädchen, das lachend hinter ihr stand, legte den Kopf schief, als Noctanas Blick sie traf.

Noctana stockte der Atem – das war Lena!

Lena.", sagte sie leise, erhob dann die Stimme. „LENA!"

Der nächste Schneeball flog, traf Lena am Bauch. Das Mädchen klopfte sich immer noch lächelnd den Schnee von der gelben Jacke, aber plötzlich fingen rote Tropfen an, ihren Mantel zu besudeln.

Lena sah bestürzt auf die Wunde, die größer und größer wurde, sie auf die Knie zwang. Blut floss aus ihrem Bauch, mehr und immer mehr ...

Bitte."

Sie hustete. Rotes Blut besprenkelte den Schnee, Lenas Haut lief langsam blau an.

Als sie auf dem Boden zusammenbrach wurde ihr Haar etwas kürzer, welliger und so schwarz wie das Gefieder eines Raben.

Manare stand mit wackligen Beinen auf: „Realität, Noctana! Realität!"
Noctana hörte ihren eigenen Atem nur noch abgehakt, drehte sich verzweifelt im Kreis.

Sie alle weinten.

Wyatt formte weiterhin Schneebälle, baute sie vor sich auf wie eine Festung.

James sah sich hektisch um, rief nach den anderen, als könnte er sie nicht sehen. 

Dann war dort Tabea ... so dünn wie ein Skelett, die Haare hingen strähnig über ihre Schultern.

Noctana!"

Sie fuhr herum. Ophelia.

Auf ihrer blassen Stirn glänzten Blutspritzer.

Du musst das alles beenden!"

Ich ... ich weiß nicht wie!", stammelte Noctana. „Ich ..."

Und dann verschwanden sie alle, mit ihnen der Schnee.

Die Welt verblasste ... sie wachte auf.

NEIN!", schrie Noctana, suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. „NEIN! NEIN! NEIN!"
Sie wollte nicht aufwachen! Sie konnte noch nicht aufwachen!

Nein, nein-

Sie schreckte erschrocken auf, ihre Kehle war trocken, ihr Atem ging stoßweise.

Obwohl sie fror, klebte Schweiß an ihrer Stirn.

Es ging also wieder los.

Der Amor war immer zuerst aufgewacht, aber Carla war tot.

Dann würde Ophelia aufwachen.

Noctana sagte sich, dass sie noch Zeit hatte.

Es würde erst einmal nichts passieren.

Trotzdem schob sie langsam die Decke zur Seite, stieg aus dem Bett und ging auf die Zimmertür zu.

Weißt du was? Du könntest es auch einfach nur für dich beenden.

Was meinst du?, fragte Noctana in ihren eigenen Gedanken.

Du weißt, was ich meine. Es sollte nicht schwierig sein ... Lena und Tabea haben es auch geschafft ...

„Nein.", sagte Noctana lauter, wollte entschlossen klingen, aber ihre Stimme zitterte verräterisch.

Bist du dir sicher? Du könntest-

„NEIN!"

Ihr Schrei hallte erschreckend laut wider, Noctana lief auf den Treppenabsatz zu, ihren Rückzugsort für die Nacht.

Stell dich nicht so an! Du weißt genau, dass-

„Nein, nein, nein, nein!", wisperte Noctana, drückte sich ihre Hände so fest wie sie konnte auf die Ohren. Es half nicht.

Natürlich half es nicht.

Du wirst nicht mehr lange durchhalten, Noctana! Sieh dich an! Es sind nur wenige Tage vergangen und du bist schon hier, verlierst dich selbst!

„Ich weiß.", stöhnte Noctana. „Bitte ... sei leise!"

Sie wusste nicht, wie lange sie dort noch saß.


Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt