Kapitel 84.

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Sie waren fast eine halbe Stunde lang in dem staubigen Keller herumgelaufen, scheinbar ohne irgendeinem speziellem Weg zu folgen.

Dann, endlich, sah Nolan das Regal, an das er sich noch einigermaßen erinnern konnte. 

„Wir sind da!", sagte er erleichtert und nieste, als ein weiteres Staubkorn in seine Nase drang.

„Endlich. Endlich!", stöhnte Sophie und fuhr sich durch die verschwitzten Haare.

„Der schwierige Part kommt doch erst noch!", meinte Noctana.

„Ach, Informationen kriegt man doch relativ leicht.", spottete Sophie. „Ihr seht das alle viel zu negativ!"

„Ähm, Leute?", kam es von Nolan. „Wir sind noch nicht in der Küche!"

„Und wie kommen wir in die Küche?", fragte Sophie und verschränkte die Arme.

„Ich glaube, wir müssen das Regal verschieben. Sonst hätte ich mich nicht mehr so genau daran erinnern können.", meinte Nolan langsam und musterte das Regal vor ihnen aus zusammengekniffenen Augen.

„Okay. Wieso stehen wir dann noch hier wie irgendwelche Statuen?", fragte Sophie. „Lasst uns das Regal verschieben!"

Sie traten langsam auf das hölzerne Regal zu.

Noctana zögerte.
Das Holz sah massiv und doch gleichzeitig in gewisser Weise unglaublich zerbrechlich aus.

„Wir schieben es nach links.", bestimmte Sophie und drückte probeweise gegen eine der Regalseiten. Es knirschte leise, die Wand bog sich ein wenig durch, aber das Regal selbst bewegte sich nicht.

„Wieso zerschlagen wir es nicht?", schlug Noctana vor.

„Wie bitte?", fragte Sophie entgeistert. „Zerschlagen?!"

„Mit einer Axt oder so. Ist vielleicht einfacher, als es wegzuschieben?"

„Hast du jemals Holz zerschlagen?!", lachte Sophie. „Wir schieben das Ding! Kommt schon, Leute. Das ist machbar!"

Noctana schluckte und legte ihre trockenen Hände an das raue Holz des Regals.

Sie spürte sofort, wie sich die ersten Splitter in ihre Haut bohrten und zwang sich mit zusammengebissenen Zähnen, ihre Hände trotzdem nicht zu bewegen. Stattdessen drückte sie fester zu und hätte vor Schmerz fast aufgeschrieben.

Es war, als drückte sie auf ein Nagelbrett.

„Auf null!", zischte Sophie.

„Was?", fragte Nolan. „Wieso auf null?"

Nach eins halt. Nicht auf eins. Und nach eins kommt null.", erklärte Sophie genervt. „Also: Drei."

Nolan legte eilig seine Hände neben die von Noctana und Sophie und verzog sofort das Gesicht: „Das tut weh!"

„Zwei.", sagte Sophie ungerührt. „Eins ..."

„Null.", murmelte Nolan und sie alle drückten zu.

Noctana keuchte auf. Sie hätte nie gedacht, dass Holz solche Schmerzen verursachen konnte.

Ganz langsam bewegte sich das Regal, rutschte Zentimeter um Zentimeter über den dreckigen Boden.

Sophie schrie etwas, aber Noctana verstand die Worte nicht, weil ihr eigener Herzschlag laut in ihrem Hinterkopf pochte.
Nolan trat einen Schritt von dem Regal zurück und Sophie drückte ihre rechte Schulter und ihren Kopf gegen das Holz.

Jetzt schrie auch Noctana, aber nicht wegen ihres eigenen Schmerzes, sondern wegen dem, den Sophie gerade spüren musste. Denn Sophie trug ein ärmellosen Shirt und durch ihren gesamten rechten Arm musste der stechende Schmerz schießen, den Noctana aktuell nur in ihren Händen spürte. 

„Ich sehe was!", rief Nolan.

„Hilf wieder mit du Fauler Mistkerl!", schrie Sophie und warf sich mit voller Kraft gegen das Regal. Es knackte und Noctana stolperte erschrocken vorwärts.

„Nein, wirklich, ich sehe die Tür!", rief Nolan aufgeregt. „Sie ist grau, und -"

„Hör auf die verdammte Tür zu beschreiben und hilf endlich mit!", brüllte Sophie wütend. Nolan sah sie erschrocken an, legte seine Hände aber wieder an die Regalwand.

„Ich glaube, das reicht.", verkündete Nolan, nur wenige Sekunden später.

Sophie lachte spöttisch auf, widersprach aber nicht. Ungefähr die Hälfte der Tür war zu sehen.

Noctana trat als erste vor und drückte die Klinke herunter. Sie öffnete schon den Mund, um zu sagen, das sie abgeschlossen war, doch die Tür öffnete sich leise knarzend und Noctana drückte sie überrascht weiter auf.

Das erste, was sie sah, waren dreckige, weiße Kacheln. Dann sah sie fünf Frauen.

„Die Geister.", wisperte Nolan ehrfurchtsvoll.

„Willst du ein Autogramm, oder was?!", fragte Sophie spöttisch.

„Klar.", erwiderte Nolan.

Der erste Geist, der sie bemerkte, war eine junge Frau mit einer eindrucksvollen Narbe auf der linken Wange. Sie konnte nicht älter als Mitte zwanzig sein, und doch war ihr Gesicht überzogen von Falten, geschaffen aus Leid und Angst.

„Philine?", wisperte Noctana.

Die Frau nickte begeistert und tat so, als schreibe sie etwas in die Luft.

„Ach so, moment!", sagte Noctana eilig und suchte in ihren Hosentaschen nach dem Zettel, den Ophelia ihr eben noch gegeben hatte. Die anderen Geister wurden langsam ebenfalls auf sie aufmerksam, einige widmeten sich trotzdem weiterhin ihren Herdplatten, andere traten neugierig auf sie zu, bewahrten aber immer noch einen gewissen Abstand.

Sophie bemühte sich, alle fünf Geister gleichzeitig im Blick zu behalten und griff nach dem Messer in ihrer Hosentasche. Sie hatte eine Waffe - das war die Devise, die sie immer wieder in ihrem Kopf wiederholte.

Aber in der Küche hingen überall noch viel größere Messer, also was, wenn -

„Wir sind gekommen, um alles zu beenden.", sagte Nolan. „Um euch alle zu befreien!"

Die Geister sahen ihn verwirrt an.

„Hier.", sagte Noctana und gab Philine den Zettel. Ihre Hand zitterte.

Philine nahm den Zettel lächelnd entgegnen, doch dann schien sich wieder eine dunkle Wolke über ihr Gesicht zu legen und sie wiederholte ihre vorherige Geste, tat wieder so, als schriebe sie etwas in die Luft.

„Ein Stift! Hast du einen Stift?", fragte Nolan mit aufgeregt blitzenden Augen.

„Nein.", wisperte Noctana.

„Amateurinnen!", schimpfte Sophie und zog tatsächlich einen stumpfen grauen Bleistift aus ihrer Hosentasche.

„Wieso hast du einen Stift dabei -"

„Ist das jetzt gerade wichtig?!", unterbrach Sophie Noctana scharf und gab Philine den Stift.

Sie begann sofort zu schreiben.

Die Schrift war gerade und ordentlich, die Buchstaben waren extrem klar erkenntlich voneinander abgegrenzt.

wir wollen holen polizei
wir wissen wie zerstören spiel

„Ja, ja!", seufzte Noctana erleichtert. „JA! Sie sind auf unserer Seite!"

„Ich mag euch Optimisten übrigens nicht. Ihr seid immer so ... argh.", meinte Sophie, ließ ihren Satz aber unbeendet und nicht wirklich genervt klingend in der Luft hängen.

„Dankeschön!", sagte Nolan fröhlich.



Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now