Kapitel 37.

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Kurz vor halb elf verabschiedete Ophelia sich von Noctana.

Sie schaffte es nicht, ein zweites mal zu Lächeln.

Sie versuchte zwar ihre Mundwinkel nach oben zu ziehen, aber es gab einfach keinen Grund für sie, das zu tun.

Damals, in der Welt da draußen, in der „normalen" Welt, da hatte das ohne Probleme geklappt. Lächeln, damit die Leute dich für freundlich halten.

Für verständnisvoll, anständig, höflich.

Hier hatte Ophelia noch stärker angefangen die Sachen zu hinterfragen. Also: Warum Lächeln?

Sie freute sich nicht, wenn sie die Personen sah, die sie früher lächelnd begrüßt hatte.

Sie freute sich nicht, wenn Leute sie kritisierten, auf ihre Fehler aufmerksam machten.

Sie akzeptierte es – aber es machte sie nicht fröhlich, es freute sie nicht.

Aber ein Lächeln sollte Freude zeigen, nicht etwas absolut selbstverständliches sein. Ein Lächeln sollte etwas echtes sein, keine Fassade. Nicht wahr?

Im Lacrim Waisenhaus machte dich dein Lächeln verletzlich. Lena hatte trotzdem nicht damit aufgehört – Ophelia schon.

Im Flur traf sie auf Tabea, die auf dem Weg in den Waschraum war.

Ophelia fing ihren Blick nicht auf, Tabea sah starr nach vorne, ignorierte alles und jeden.

Also beschloss Ophelia, sie nicht aus ihrer Trance zu wecken und lief weiter.

Sie war so oft in den letzten Monaten diesen Weg gelaufen.

Zimmer, Treppenhaus, Versammlungssaal.

Keller, Dach, Brunnen, Koffer, in einen seltsamen Raum voller Messer, an den sie sich immer noch nicht gewöhnt hatte-

„Ophelia!"

Die Spielleiterin stand in dem Versammlungssaal, die Hände vor dem Bauch verschränkt.

„Wir gehen heute in den Keller.", verkündete sie. „Aber vorher würde ich dir eine Sache gerne erklären: Genauer gesagt eine Rolle. Der "weiße Werwolf".

Wenn er mit seinem Rudel aufwacht sieht er aus wie sie auch. Jede Nacht wacht er allerdings noch ein zweites mal auf: Mit weißem Fell und hellblauen Augen.

Was glaubst du, tut er?"

„Er bringt ... jemanden um.", sagte Ophelia stockend, versuchte ihr Gesicht genauso ausdruckslos aussehen zu lassen wie die Spielleiterin es mit ihrem tat. Doch in ihren Augen tobten die Emotionen, wirbelten durcheinander wie Staub im Ozean.

„Das ist korrekt. Aber wen? Welche Rollen?"

„Werwölfe.", antwortete Ophelia scharf.

„Ein zweites mal korrekt. Du bist ein schlaues Mädchen."

Die Spielleiterin lief langsam auf sie zu: „Der weiße Werwolf tötet zuerst mit den anderen Wölfen einen von euch. Danach tötet er einen der Werwölfe.

Eine wahrhaft gespaltene Persönlichkeit, nicht wahr?

Aber nun zu meiner Frage. Gehört er zu den Guten oder den Bösen? Gehört das „weiß" in seinen Namen, wenn es doch so schnell mit etwas gutem assoziiert wird? Antworte darauf."

Warum?, war das erste an das Ophelia dachte. Alles, was die Spielleiterin ihnen mitteilte musste auf einem Grund basieren, da war sie sich sicher.

Aber was war der Hintergrund dieser Frage?

„Weder noch. Ich denke, „grauer Wolf" würde es besser beschreiben."

„Ein doppelter Mörder, der so nah an dem "Guten" schwebt?", fragte die Spielleiterin herausfordernd.

„Gut ist relativ.", erwiderte Ophelia.

„Erstaunlich, dass du das so siehst. Richterin zu sein würde dir nicht liegen, oder?"

„Wollen sie jetzt auf die Gesetzte anspielen? Dabei sind sie doch diejenigen, die uns-"

„Wir möchten mit dem Unterricht anfangen.", unterbrach die Spielleiterin. Ophelia schloss die Augen.

Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie nicht aufgehört zu reden?

Die nächste Stunde würde sehr hart werden, das wurde ihr klar. 

Und es war ganz allein ihre Schuld.


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now