Kapitel 35.

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„OLIVER!"

Erst ein Schrei, zwei, drei. Alle mit dem gleichen Inhalt.

Mit dem gleichen Wort.

Dann ein dumpfer Aufprall.

Noctana lief so schnell wie sie konnte die steile Holztreppe hoch.

Anscheinend hatten sie die zweite Leiche gefunden.

Die jungen Bewohnerinnen und Bewohner des Waisenhauses standen alle am selben Türrahmen, oder lehnten gegenüber der weit geöffneten Tür an der Wand des Flures, andere saßen auf dem Boden, den Kopf zwischen den Händen.

Als Noctana das Zimmer endlich erreichte stolperte Tabea heraus, die Hände vor den Mund gedrückt, ein Schweißtropfen rann ihr die Stirn hinunter vermischte sich mit ihren salzigen Tränen und blieb auf ihrer Wange kleben.

Luise fing Tabea auf, bevor sie auf dem Boden aufkam.

Genauer gesagt: Sie versuchte, sie aufzufangen. Keuchend vor Anstrengung sank sie gemeinsam mit Tabea zu Boden.

„Er ... er ...", keuchte Tabea, ihre Augen wanderten über alle Gesichter, die sie stumm anstarrten. Ihre Arme zitterten, ihr Magen rebellierte.

Sie hatte sich so oft übergeben in letzter Zeit: Fast immer aus ihrem eigenen Willen.
Um das Fett zu verlieren, das sie überall an sich sah. Das Fett, das eigentlich nur Haut war – zumindest für alle anderen, außer für sie.

Doch sie hatte nicht nur ihr Essen immer und immer wieder von sich gestoßen, ihr Gewicht verringert, Kilo um Kilo verloren – sondern auch sich selbst.

Und jetzt weigerte sie sich das wenige von sich zu geben, dass in ihrem Magen umherwirbelte. Drei Löffel.

Es waren drei Löffel Haferbrei. Ohne Rosinen, die hatte sie herausgefischt.

Aber die drei Löffel versuchte sie bei sich zu behalten, als wäre es alles, was ihr blieb.

Und vielleicht war es das ja auch. Also drückte sie die Lippen so fest zusammen, dass sie spürte wie ihre Zähne Abdrücke an den Innenseiten hinterließen.

Luises Arme schlangen sich um ihre dünnen Schultern, Tabeas Tränen wurden von dem dichten Stoff des hellgrau gefärbten Pullovers ihrer Freundin aufgenommen.

Versiegen taten sie nicht.

Ophelia trat aus dem Zimmer, ihr Gesicht war noch bleicher als es sonst sowieso schon war. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, fast so schwarz wie ihr T-Shirt.

„Du solltest da nicht rein.", sagte sie, als sie Noctana entdeckte. „Ich hätte auch nicht reingehen sollen. Ich bin nicht besonders gut darin, zerstückelte Körperteile zu sehen."

Allein schon bei dieser Beschreibung hatte Noctana das Gefühl, jemand würde einen Horrorfilm vor ihren Augen laufen lassen.

„Vielleicht ganz gut dass wir ihn erst nach dem Frühstück gesehen haben.", meinte Wyatt, der hinter Opehlia aus dem Zimmer kam.

„Klar: Leichen sehen mit gefüllten Mägen ist doch immer wieder das Highlight meiner Tage!", stöhnte Manare. „So langsam habe ich das Gefühl, ich würde mich Barbaren zusammenwohnen!"

„Du wohnst schon mit Barbaren zusammen.", kommentierte Wyatt trocken.

„Immerhin leben wir noch.", sagte James, der nun ebenfalls zu ihnen trat.

„Du sagst das, als wäre es etwas Gutes."

Noctana erkannte die Stimme sofort, trotzdem schloss sie die Augen, befahl ihrem Gehirn die eindeutige Verbindung nicht herzustellen.

Sie wollte nicht wissen, wer hier alles nicht mehr weiterleben wollte.

Wieso denn? Hast du Angst, dass du es warst? fragte die Stimme höhnisch. Hast du Angst, dass dein Leben dir auch nichts mehr bedeutet?

„Das Schlimmste kommt noch.", flüsterte Ophelia, den Blick auf Tabea gerichtet. „Sie hat es noch nicht realisiert."

„Was?!", fragte Manare und lachte ungläubig. „Sie weint sich gerade die Augen aus und du sagst, dass-"

„Am schlimmsten ist es, wenn dir klar wird, dass die Person nie wieder zurückkommen wird. Zuerst kommen die Tränen, die Verzweiflung.

Dann die Tatsache, dass es wirklich vorbei ist. Und dass du nichts daran ändern kannst, egal, was du tust. Egal, was du sagst. Egal, was du denkst.

Die Toten sind tot. Für die lebendigen Menschheit gibt es keine Unendlichkeit – für die Toten schon. Es wird nie „vorbei" sein.

Es gibt kein Ende mehr, wenn du tot bist. Es ist das Ende."

„Was ist, wenn das Leben ein unendlicher Kreislauf ist?", fragte Wyatt stirnrunzelnd.

„Oh Gott, wie schlimm wäre das denn? Ich will das alles endlich hinter mir haben."

Es war Luise, die diese Worte in die Runde warf. Luise, die immernoch die schluchzende und zitternde Tabea in den Armen hielt.

Luise, die eigentlich noch nie wirklich etwas gesagt hatte. Natürlich hatte sie geredet, aber noch nie ohne Kontext.

Sie war selten diejenige, die die Antwort gab.

Meistens stimmte sie der Antwort nur zu.


Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt