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Jungkook PoV

Der Wind fegte ein paar wenige Blätter über den gepflasterten Weg. Die Stille an diesem Ort war beinahe beängstigend und doch irgendwie beruhigend. Wieder hier zu sein liess meine Hände zittern und mein Puls rasen. Mehrere Male wollte ich einfach wieder umdrehen und gehen, dem Ganzen wieder entfliehen.

Doch ich musste mich dem endlich stellen.

„Hey, Baby", Taehyung griff nach meiner Hand und zog mich ein Stück näher. Er lächelte leicht, seine Augen strahlten. „Du schaffts das, ja?"

Ich sah ihn an, meine Mundwinkel zogen sich automatisch ein Stück hoch, als ich auf unsere verschränkten Hände sah. Unsere Handgelenke waren geschmückt mit demselben Armband, das einfach dafür stand, wie stark unsere Beziehung war. Es war nur das Materielle, die wirkliche Bindung zwischen uns, merkten wir an jedem Tag, den wir gemeinsam verbrachten.

Ich nickte schwach und drückte seine Hand einmal, ehe ich ein Stück näher an ihn trat, meinen Schal fester um den Hals schlang und weiter durch den Friedhof lief. Das Ziel hatte ich klar vor Augen. Ich war so viel mal da gewesen, selbst im Schlaf könnte ich den Weg gehen.

Der gestrickte Schal war von Hobi's Grossmutter, er hatte ihn eigentlich auch bekommen. Doch sobald er von uns erfahren hatte, dass wir für wenige Tage nach Korea gingen, hatte er ihn mir gleich geschenkt. Um kalte Tage wärmer zu machen, hatte er dazu gesagt.

Auch Jimin's Kuschelsocken trug ich unter meinen Timberlands, die Tae mir geschenkt hatte als wir gleich nach dem Valentinstag shoppen gingen. Ich hatte mich direkt in die Schuhe verliebt und Taehyung hatte das natürlich bemerkt.

Die Geschenke meiner Freunde hatte ich bewusst bei mir, so konnte ich wissen, dass sie mir -obwohl sie gerade nicht hier waren- beistehen und ich Leute hatte, die mich unterstützten.

Der vertraute Grabstein kam näher, das Grau sah nach wie vor strahlend aus, trotz den Blätter, die darum herum lagen. Vermutlich war niemand mehr hier gewesen, seit dem ich das letzte Mal kurz vor meiner Abreise hier gewesen war.

Meine Hände begannen stärker zu zittern, augenblicklich kamen all diese Gefühle wieder hoch. Ich spürte diese Leere, diese Lücke in meinem Herzen, ich spürte den Schmerz. Das Gesicht meiner Mutter tauchte vor meinem inneren Auge auf, ihre Schreie hallten durch meine Ohren.

Wie von alleine knickten meine Beine ein, als ich vor ihrem Grab stand. Meine Knie kamen unsanft auf dem Boden auf. Ich schlug meine Hände vors Gesicht, erstickte die vielen Schluchzer, die über meine Lippen kamen.

Taehyung setzte sich neben mich auf den Boden, umgriff meine Hände und nahm sie in seine. Ich wusste, er wollte mir beistehen, ohne es mir abzunehmen. Da musste ich alleine durch, wenn er jetzt seine Arme um mich legen würde, würde ich wieder zusammen brechen. Ich würde es nicht mehr durchziehen.

Mein Atem ging schwer, doch ich probierte gleichmässige Atemzüge zu machen, schniefte kurz und sah dann wieder hoch. Ihr Name stand daneben, mein Vater hatte gewusst, wie sie heissen würde. Doch nicht einmal das hatte sie miterlebt. Meine totgeborene Schwester lag direkt neben meiner Mutter, sie teilten einen Grabstein.

Tae strich über meinen Handrücken, seine Augen hafteten auf mir. Ich atmete nochmals durch und straffte dann meine Schultern.

„Hey Mom", begann ich leise. „Ich weiss, ich war lange nicht mehr hier. Ich hoffe du hast es immer noch schön da oben. Es tut mir Leid, dass du lange nichts mehr von mir gehört hast."

Ich blickte kurz zu Tae, der mich aufmunternd anlächelte.

„Ich bin heute nicht alleine hier. Das ist Taehyung, mein Freund. Er ist unglaublich, Mom. Er hat mir unheimlich viel Kraft gegeben, mich unterstützt und mich aus meinem kleinen schwarzen Loch herausgeholt. Ich liebe ihn sehr."

Kurz zog ich seine Hand zu mir und drückte einen Kuss auf seinen Handrücken. Ein leichtes Schmunzeln umspielte meine Lippen.

„Er ist die Liebe meines Lebens, weisst du... Und ich bin dem Universum einfach dankbar, dass ich ihn kennenlernen durfte. Ich weiss nicht, vielleicht hast du ja mitgeholfen."

Tae rutschte näher an mich heran und drückte seine Lippen an meine Stirn. Ich schloss meine Augen und atmete die frische Luft ein. Ein leichter Wind war plötzlich aufgekommen, wirbelte ein paar Blätter um uns herum. Ich hatte das Gefühl meiner Mum in dem Moment viel näher zu sein, als ich dachte.

Mein Freund löste sich, sah lächelnd zum Grab.

„Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen Mrs. Jeon. Ich verspreche Ihnen gut auf ihren Sohn aufzupassen und ihm immer beizustehen", meinte er und sah schnell in meine überraschten Augen. „Weil er es mehr als jeder andere verdient hat und weil ich ihn mehr als alles andere liebe."

Taehyung neigte seinen Kopf, als würde er sich verbeugen und sah dann wieder zu mir. Nach wie vor lag ein überraschter Ausdruck auf meinem Gesicht, ich hätte nicht gedacht, dass Tae das so ernst nehmen würde, wie ich das immer tat. Schliesslich redete man hier mit einem Grab, doch mein Freund ging ganz normal damit um.

Die wenigen Tränen, die über meine Wangen liefen, konnte ich nicht verhindern. Meine Liebe zu Taehyung wurde mit jedem Tag, mit jedem Lächeln, mit jeder Tat von ihm grösser und langsam wusste ich nicht mehr, wie ich mit dem umgehen sollte.

Ein leichter Schauer auf meinem Rücken liess mich hochschrecken, es fühlte sich beinahe so an, als würde jemand seine Hand auf meine Schulter legen. Erneut wurde der Wind stärker, wirbelte mir die Haare in die Stirn.

Tae und ich sahen zum Himmel, ehe wir gleichzeitig den Blick aufs Grab wandten. Wir dachten dasselbe, dafür brauchte es keine Worte. Der Ältere lächelte mich wieder an, legte den Arm um mich und küsste nochmals meine Wange.

„Sie beschützt dich mehr als du denkst", hauchte er in mein Ohr.

Ich erschauderte, sah ihn an und nickte langsam, während weitere Tränen sich den Weg meine Wangen hinunter bahnten. Tae beugte sich vor, küsste jede einzelne davon weg.

Seine Augen waren glasig, er musste ein paar Mal blinzeln, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

„Unser Leben in London ist sehr schön", wandte ich mich wieder an meine Mutter und blickte zum Grab. „Wir haben unglaublich tolle Freunde. Tae's Eltern sind zwar ein bisschen anstrengend, doch das kriegen wir schon hin. Tae ist bald fertig mit der Schule, wir überlegen danach ein wenig herumzureisen. Ich weiss, dass du das auch immer wolltest und ich verspreche dir, am Ende nochmals hier hin zu kommen und dir davon zu erzählen."

Taehyung drückte meine Hand, ich sah ihn dankbar an. Niemals würde ich ihm vermitteln können, wie unglaublich dankbar ich wirklich war. Für alles, was er mir geschenkt hat. Für alles, was er mir gezeigt hat. Für alles, was wir gemeinsam erlebt hatten.

„Ich wünschte, du wärst noch hier, um das alles mit uns zu erleben", murmelte ich und sah kurz auf die abgebrannte Kerze vor dem Grabstein. „Vielleicht muss es aber so sein. Ich bin mir sicher, dir, euch geht es nun gut."

Langsam stand ich auf, klopfte mir den Dreck von den Hosen und sah die eingeritzten Namen an. Tae stand hinter mir, er hatte eine Hand mit meiner verschränkt.

„Ich liebe euch und vermisse euch", flüsterte ich leise und blinzelte wieder. Ich spürte Taehyung nah an mir, er legte seine freie Hand an meine Taille und drehte mich zu ihm. Leise schluchzend legte ich mein Kopf auf seiner Brust ab. 

Der Wind wehte immer noch sanft um uns herum, ich sah mit verschwommenen Blick zum Grab. Eine Weile standen wir einfach so da, es reichte mir, dass Tae da war. Er war bei mir. Ich war nicht alleine.

Und endlich, endlich begriff ich, was es wirklich hiess, nicht alleine zu sein.

~~

Ja, ich hoffe ihr versteht dieses Kapitel...

porcellan | vkookWhere stories live. Discover now