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• M I L E S •

Ich habe wieder ein Geheimnis.
Niemandem habe ich von meiner fehlenden Akte erzählt.
Wem denn auch? Meine Eltern würden ausrasten und Alice vermutlich verklagen und meine Geschwister würden sich nur über mich lustig machen oder es ist ihnen egal.
Wieder fange ich an, all meine Probleme und Sorgen in mir zu vergraben.
Nicht mal Alice kann ich meine Ängste anvertrauen, da sie nicht weiß, was ich weiß. Jackson hat meine Akte. Ich bin mir so sicher wie man sich nur sein kann und ich bin mir auch sicher, dass der heutige Schultag der schlimmste meines Lebens werden wird.

Ich meine, wenn er das gelesen hat, weiß er alles über mich. Er wird mich bloßstellen und das letzte Jahr in der Schule wird die Hölle für mich werden. Nicht mal auf Logan kann ich bauen, weil ich ja auch ihn belüge, was meine Identität angeht.
Ich belüge jeden.
Ich täusche jeden.
Und manchmal frage ich mich, ob ich selbst überhaupt noch weiß, was die Wahrheit ist oder wer ich eigentlich bin.
Vielleicht bin ich das Produkt meiner eigenen Verstrickungen aus Lügengeschichten. Vielleicht habe ich aufgehört ich zu sein, als ich erkannt habe, wie einfach es ist, diese Maske aufzusetzen. Vielleicht habe ich mich in meinem Labyrinth aus Lügen und Täuschung selbst verloren.
Nicht mal das weiß ich.
Ich weiß gar nichts mehr, nur, dass ich alles nur noch schlimmer mache, wenn ich jetzt nicht in die Schule gehe.
Zu einem Lügner werden sie mich auch noch für einen Feigling halten und wissen, was sie mit mir ihrer Art und ihren Worten antun können. Ich muss meinen Mann stehen. Heute Abend kann ich dann im Bett liegen und mich selbst bemitleiden.
Ich lasse mir noch einen Moment Zeit, einen tiefen Atemzug zu nehmen, ehe ich aus dem Auto steige und über den Parkplatz zum Schuleingang laufe.
Ich versuche einfach so zu tun, als wäre nichts. Vielleicht kann ich behaupten, es seien nur unwahre Gerüchte.
Nur, falls mich einer zu einem Beweis drängen sollte, wäre ich halt dezent am Arsch.
Als ich so über den Hof laufe, stelle ich fest zu meinem Erstaunen fest, dass sich eigentlich keiner für mich interessiert.
Alle gehen ihren eignen Leben nach, schreiben Hausaufgaben ab, versuchen sich noch schnell etwas einzuprägen, reden und kichern mit ihren Freunden bzw. -innen. Keiner schert sich um mich.
Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das erleichtert.
Wenn Jacks die Akte noch nicht publik gemacht hat, kann ich ihn vielleicht noch davon abbringen, es zu tun, indem ich ihn daran erinnere, dass ich weiß, dass er in der Praxis seiner Mum randaliert hat und wenn er zugibt, meine Akte zu haben, dann verrät er sich ja quasi auch noch selbst.
Ich muss einfach schlauer sein als er. Das sollte aber bei seinem IQ kein allzu großes Problem darstellen.

Da ich heute die ersten beiden Stunden Sport habe, gehe ich gleich zu den Umkleidekabinen.
Ich war intelligent genug, mich schon fertig anzuziehen, damit ich es nicht mit den Jungs machen muss.
Es ist seltsam, da wir an dieser Schule jede Woche einen neuen Stundenplan per E-Mail geschickt bekommen, aber eigentlich finde ich die Abwechslung so auch ganz gut. Dass das nur wegen des Lehrermangels so ist, geht da ganz unter.
Als ich die Umkleide betrete, muss ich feststellen, dass viele aus meinem Kurs schon da sind. Die Leute aus Jacksons Gruppe sind die einzigen, die noch fehlen. Leider auch Logan.
Da ich hier niemanden kenne, setze ich mich einfach mit meinem Handy, solange auf eine beinahe leere Bank, bis der Lehrer mit seiner Trillerpfeife in der Umkleide steht und uns raus scheucht.
Gerade, als die letzten den Raum verlassen, öffnet sich die Tür zur Umkleide und Jackson kommt lachend mit seinen Leuten rein. Er präsentiert gerade ein paar seiner Knutschflecken am Hals und meint: „Wartet mal bis ihr die hier unten gesehen habt!" Er deutet auf seinen Genitalbereich und ich verziehe angeekelt das Gesicht. Pfui.
Aber zumindest lagen wir wohl richtig in der Annahme, dass er sich die Zeit gestern mit irgendwelchen Mädchen vertreiben hat. Wann hatte er also die Zeit, noch in die Praxis seiner Mum einzusteigen? Dieser Junge ist echt talentiert, also das muss man zugeben.

Sein Blick bleibt bei mir hängen, sein Lachen vergeht langsam aber sicher, während seine Jungs sich in der Umkleide verteilen, die Sachen von den anderen einfach runterwerfen, um sich Platz zu machen.
Jackson und ich halten den Blickkotakt.
Ich weiß ja, wie kindisch das ist, aber ich will einfach keine Schwäche zeigen.
Nach einer Weile beginnt Jackson leicht zu grinsen, so als habe er Spaß dabei, mir in die Augen zu sehen so intensiv, dass er es fast schafft, mir dabei in die Seele zu blicken.
Ich ziehe nur missbilligend die Nase kraus.
Er findet das wohl lustig, denn er beginnt leicht zu lachen, reißt seinen Blick dann von mir los, um belustigt den Kopf zu schütteln und sich das Shirt über den Kopf zu ziehen. Und tatsächlich. Alleine sein Oberkörper ist voll mit Kussmalen.
Jeder seiner Muskeln trägt seine eigene Zeichnung, so als hätte jemand bestimmen wollen, dass jeder Teil von Jacksons Körper ihm gehört.
Als er  mir den Rücken zudreht, um etwas aus seiner Tasche zu holen, sehe ich, dass auch sein Rücken nicht verschont geblieben ist, denn er trägt dort Knutschflecken in der Form eines Herzens über den gesamten Rücken verteilt.
Sowas kitschiges hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
„Jungs, ich warne euch, so wird das nicht mehr weitergehen!", bestimmt der Lehrer und schiebt mich aus dem Raum.
Dabei fällt mir gar nicht auf, dass auch Jordan zurückgeblieben ist.
Er rempelt mich beim Laufen an, als seien wir Kumpels oder so und grinst dann. „Du bist also Miles. Hab schon viel von dir gehört..."
Ich nickt brummend. „Mhm, ich auch von dir. Jackson soll dich ziemlich übel verprügelt haben."
Er presst kurz die Zähne zusammen, aber zwingt sich dann ein Lächeln auf. „Sowas kommt schon mal vor unter Jungs, aber sag mal, was hältst du denn so von Jacks?"
Er nennt ihn also Jacks? Machen das nicht nur seine Freunde?
Dazu sage ich jetzt mal gar nichts, sondern gehe auf seine Frage ein, so halb zumindest.
„Was soll ich von ihm halten?" Ich zucke mit den Schultern.

Als der Coach meint, wir sollen gleich mal Zweiteams bildet, beschließt Jordan einfach, dass ich zu ihm gehöre.
Wir reden die ganzen Stunden über, naja eigentlich ist es mehr so, dass er mich ausfragt.
Hauptsächlich geht es dabei um Jackson, so als sei dieser Oberaffe der Mittelpunkt meines Lebens.
Als ich Jordan dann mal auffordernde, mir zu erzählen, was er von Jacks hält, ist er ruhig und wechselt das Thema zum Football. „Hab gehört, du sollst auf meiner Position gar nicht so eine Niete sein wie in sonst allem, was Football angeht" Dabei schmunzelt er leicht, will es wohl als Spaß rüberbringen, aber ich sehe es als reine Provokation.
Jetzt weiß ich wenigstens, dass Jacks mir damals diese Stelle zugeteilt hat, weil sie aufgrund von Jordans Fehlen frei war.
„Meines Wissensstands nach heißt die Position Wide Receiver und nicht Jordans-Position, also hast wohl keine Besitzansprüche, bis sich das ändert", stelle ich nüchtern fest.
Ich weiß gar nicht, warum ich so unfreundlich zu ihm bin.
Eigentlich sollte ich total glücklich sein. Niemand weiß von meinen Geheimissen, Jackson hat sogar meinetwegen leicht gelacht und wir haben uns in die Augen gesehen, ohne dass es in Mord und Totschlag geendet hat... Ich durfte seinen wahnsinns Oberkörper betrachten, aber trotzdem stört mich irgendetwas.
Vielleicht ist es einfach Jordans Stimme, die meinen Gehörgang schon seit einer Stunde belästigt.
Ich bin niemand, der schnell über Menschen urteilt, aber ich habe auch ein gutes Bauchgefühl, was den Charakter von Menschen angeht und Jordan ist mir, um ehrlich zu sein, etwas unheimlich.
Ich bin froh, als wir endlich eine Pause bekommen und Logan mich zu Begrüßung  umarmt. Zwar stinkt er nach Schweiß und hat ihn auch überall hängen, aber irgendwie mag ich den Geruch auch. So herbe, männlich. Ich würde auch gerne so riechen.
Irgendwie paradox, dass man sich wünscht, so einen starken Eigengeruch zu haben oder?
„Sorry nochmal wegen gestern"
Ich ignoriere Jordan einfach gekonnt, weshalb er sich so fühlt, wie  er es bei mir ist –unerwünscht- und verschwindet und wende mich an Logan, der in meiner Nähe mehr als willkommen ist.
Er lacht leicht und streicht meine etwas verklebten Haare aus der Stirn. „Kein Ding. Ich bin sicher, du hast deine Gründe dafür, mich zu versetzen. Hast du denn heute vielleicht Zeit? Die anderen wollen nur wieder im Park Lärmbelästigung betreiben, da würde ich mich lieber wieder in dein gemütliches Bettchen legen..."
„.. und mein Knie in deine Eier bekommen?", lache ich.
Logan und ich unterhalten uns wie immer gut. Er ist einer der wenigen Menschen, bei denen ich ein komplett gutes Bauchgefühl habe und weiß, dem vertrauen zu können.
Er ist ein guter Mensch. Etwas, das ich von mir selbst oder Jackson nicht behaupten kann.
Jackson, der über den gesamten Sportplatz zu uns rüber starrt und mich mit seinen Blicken plötzlich beinahe erdolcht.
Irgendwie ist es klar, dass ein Junge wie er mit Eifersuchtsproblemen zu kämpfen hat, wenn es um seinen besten Freund geht. Aber sowie ich das sehe, tut er nie etwas, um Logan auch mal zu zeigen, wie viel er ihm wert ist und da ich es manchmal sehr gerne habe, andere zu provozieren und somit ein Tor gegen Jackson schießen kann, lege ich meine Hand hoch auf Logans Schulter.
Er nimmt es als normal hin, erzählt mir weiter von seinen Erfolgen bei Fifa, während ich so tue, als würde mich das wahnsinnig interessieren.
Ich komme ihm dabei immer näher, solange, bis ich quasi an ihn lehne, was ihn keineswegs zu stören scheint, da er auch noch den Arm um meine Hüften legt und einfach sorglos weiter redet.
Da ich glaube es machen zu können, schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und presse mich an ihn.
„Los, umarm mich!", zische ich ihm ins Ohr.
Er tut es, wenn auch zaghaft, legt seine muskulösen Arme um mich.
Gott, wie ich es vermisst habe, in den Armen eines Mannes zu stehen/liegen. Nick hat eine ähnliche Statur wie Logan. Groß, etwas muskulös, zwar nicht zu viel, aber so viel, dass man schon deutlich erkennt, dass sie regemäßig Sport machen, was schon beachtlich ist, wenn man mal bedenkt, dass Logan ja wegen seiner Verletzung schon eine Weile Schonung braucht.
„Womit hab ich das verdient?", hakt Logan nach, flüstert es in mein Ohr.
Ich grinse Jackson über das Feld hinweg an und zeige ihm, wie sehr ich diese Umarmung genieße, als ich über Logans Kopf kraule. „Du bist ein guter Freund. Und außerdem mag ich die Eifersucht in Jacksons Blick im Moment."
„Wo? Lass mich sehen!" Logan will sich aus der Umarmung lösen, aber ich lasse ihn nicht.
Er macht kurzen Prozess, indem er mich einfach hochhebt, uns einmal mal umdreht, sodass ich vor Überraschung lachen muss.
Als er mich wieder abstellt, stehen wir so, dass er zu Jackson schauen kann.
Kurz danach kichert er mir ins Ohr. „Oh das wird noch Stress geben. Bald hab ich nichts mehr, in das du treten kannst."
Ich kichere ebenfalls leicht.
Durch seine Arme um meinen Körper scheine ich in einer komplett anderen Welt zu sein, solange, bis der Lehrer einmal mehr in seine Pfeife bläst, um die Pause zu beenden...

©Cupid42hearts

Real me [BoyxBoy] + Cupid42hearts Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt