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• M I L E S •

Dass Alice mir versichert hat, sie würde sich nach Jackson erkundigen und mir Bescheid geben, hat mir eine innere Ruhe gegeben, von der ich nicht gewusst habe, dass ich sie brauche.
Sie war ziemlich schockiert über die Ereignisse in der Schule, doch konnte mich dennoch sinnvoll beraten.
Nichts abstreiten, zu mir stehen und vor allem: mich auf meine Freunde verlassen. Sie werden mir in dieser schweren Zeit Sicherheit geben müssen. Halt.

Als ich danach nachhause kam, ist mein Dad beinahe die Wände hochgerannt, weil er es nicht geschafft hat, dafür zu sorgen, dass die Schulwebsite geschlossen wird. Mum hat versucht, ihn zu beruhigen, während Logan mit Bennys Laptop und dem meiner Eltern dasaß und wie ein Irrer auf den Tasten herum tippte.
Nick stand hinter ihm und schaute konzentriert und beeindruckt auf die Bildschirme, wirkte auch ziemlich überfordert.
Ich räusperte mich, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, erzählte von der Sitzung, während wir alle Logan dabei beobachteten, wie er die ganze Nacht über daran saß, sich ins Schulnetzwerk zu hacken, um dort zum einen die Bildschirme runter zu fahren und zu sperren, sodass keiner mehr außer ihm Zugriff darauf hatte und zum anderen die Webseite zu schließen, sodass sie nicht mehr aufgerufen werden konnte, bis herausgefunden werden kann, wer da immer die Sachen hochlädt.
Das hat bis in die frühen Morgenstunden gedauert. Meine Eltern haben sich zwischenzeitlich schlafen gelegt und auch Benny ist auf dem Sofa eingepennt. Bryce war die Nacht über gar nicht zuhause.
Nick trägt Ben früh morgens in sein Zimmer hoch und Logan haut sich auf der Couch aufs Ohr. Ich bin ihm so unendlich dankbar, immerhin hat er sich für mich gerade strafbar gemacht, aber er tut es ab, als sei es nichts. Er ist ein wahrer Freund.

Gerade als ich dabei bin, mich etwas zu entspannen, bekomme ich eine Nachricht auf mein Handy.
Nervös ziehe ich es hervor, hoffe es ist Jack, aber werde enttäuscht.
Okay, Jack ist auch ein Teil der Nachricht, aber nicht so, dass es mich erfreuen würde. Eine unbekannte Nummer hat mir ein Bild geschickt, auf dem Jack sich in einem Stripclub befindet und gerade die Garderobe einer Tänzerin betritt, gefolgt von dem Barkeeper, mit dem er auf einem weiteren Bild redet.
Das dritte und letzte Bild zeigt Jack an Jordans Brust gekuschelt, während dieser einen Arm um ihn gelegt hat und mit der anderen die Kamera hält und frech reingrinst.
„Sorry, Bitch, aber er steht nun mal auf echte Männer und keine, die sich nur wünschen, sie hätten einen Schwanz.", steht in einer Nachricht dabei.

Klar ist mir bewusst, dass es sich bei dieser Nummer wohl um Jordans handelt, aber obwohl er mir das nur geschickt hat, um mich zu provozieren, lässt es mein Herz nach all diesen Strapazen komplett zerbrechen.
Ich bemerke ich gar nicht, dass ich mir die Hand auf den Mund presse, um mein Schluchzen zurückzuhalten, ehe mir mein Handy aus der zitternden Hand entgleitet und hart auf dem Fließenboden aufschlägt.
Jordan hat so recht. Ich bin kein echter Mann, ich werde das niemals sein. Alle werden immer nur die ekelhafte Transe in mir sehen. Das Mädchen, das sich wünscht, ein Junge zu sein. Das Mädchen, das sich lächerlich macht. Das Mädchen, das keine Brüste mehr hat. Das Mädchen, das sich Testosteron spritzt. Das Mädchen, das unter all diesen Dingen zerbricht.
Wie ich mich dabei fühle, ist anderen doch völlig egal. Es ist Jacks egal. Er ist zurück bei Jordan und das, obwohl er weiß, dass ich die bessere Wahl bin. Dass ich ihm niemals wehtun würde. Dass ich ihn wirklich liebe. Aber all das ist für ihn nicht wichtig. Für ihn bin ich nur das Mädchen, das ihm vorgespielt hat, ein schwuler Junge zu sein.

„Miles, Sternchen, hei, schhh." Nick legt seine Arme um mich, als auch meine Beine nachgeben. Sie wollen mich nicht mehr halten oder sie können einfach nicht mehr.
Meine Familie ist damals mit mir hierhergezogen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, dass die Leute zuhause so von mir dachten, wie alle hier jetzt von mir denken. Dass sie mich so angesehen haben, so abwertend, missachtend.
Durch ihre bloßen Blicke haben sie mir erklärt, für wie falsch sie mich halten.
Ich weiß, ich sollte nichts auf die Meinung all dieser Leute geben. Nur weil sie mich für falsch halten, bin ich das nicht. Nur leider fühlt es sich so an und da werden mir auch alle Antidepressiva der Welt nicht dagegen helfen können.
Ich werde für immer der Junge sein, der niemals ein richtiger Junge sein wird. Ein bisschen wie Pinocchio.

Als ich daran denke, beginne ich trotz meiner Tränen hysterisch zu lachen. Ich bin fucking Pinocchio, nur ohne happy end. Ohne jemals als wirklicher Junge aufzuwachen, egal wie sehr ich mir das wünsche. Egal, wie ich mich fühle und egal, was ich dafür tue.
All diese Menschen, die mich ansehen und denken, das sei eine Entscheidung, so als hätte ich die Wahl... Keiner von ihnen hat eine Ahnung, wie lange ich mit mir gekämpft habe, um mich als Mädchen zu akzeptieren, um mich richtig in meinem Körper zu fühlen.
Ich habe es gehasst, mich im Spiegel zu sehen, geschweige denn mich nackt zu sehen oder überhaupt jemals auszuziehen. Nick und ich haben so viele Versuche für unser erstes Mal gebraucht, weil ich jedes Mal abgebrochen habe, als es darum ging, mich zu entblößen.
Es lag nicht an ihm oder dass ich ihm nicht vertraut hätte, ich fühlte mich einfach falsch in diesem Körper und wollte nicht, dass er mich so sah.

Jetzt, nachdem ich die Brüste los bin, und seit zwei Jahren Testosteron bekomme, ist es viel besser. Man sieht zwar meine Operationsnarben noch etwas, aber sie werden mit der Zeit verschwinden und irgendwann, wenn ich bereit dazu bin, werde ich auch einen Penis haben.
Bis dahin kann ich wenigstens damit leben, so zu sein wie ich gerade bin.
Damals war das nicht so. Jeden Tag habe ich mir gewünscht, es würde sich doch endlich etwas ändern, aber nie ist etwas passiert, bis ich mir eingebildet habe, selbst dafür sorgen zu müssen.
Der Tag, an dem Bryce mich in der Dusche gefunden hat, komplett angezogen, aber pitschnass und bereit mir mit Vaters Rasierklingen die Pulsadern aufzuschlitzen, war der Tag, an dem sich meine Familie bereit erklärt hat zu akzeptieren, dass ich nicht mehr ihre süße kleine Prinzessin bin. Dass ich das nie war.
Ich ging zur Therapie, um das Testosteron zu bekommen und mit meiner Situation umzugehen zu lernen, meine Familie unterstützte mich in allem. Aber sie sind auch die einzigen, die immer wussten, wie schlimm es um mich stand.

Selbst Nick hat keine Ahnung von meinem gescheiterten Selbstmordversuch und das soll auch so bleiben. Er hat mich auch ohne das für verrückt erklärt und sich geweigert zu akzeptieren, wer oder was ich bin.
Ich erinnere mich noch an den einen Abend, den Abend unserer Trennung. Ich sagte zu ihm: „Ich kann das alles nicht mehr, Nick. Du behauptest, dass du mich liebst und dabei kannst du nicht mal akzeptieren, wer ich bin!"
Er lachte über mich, redete mir ein, ich sei kein Junge und sollte endlich aufhören so zu tun. Anfangs sei es noch lustig gewesen, aber ihm wäre der Spaß vergangen.
Ich machte Schluss mit ihm.
Er schrie: „Du meinst das also echt ernst? Du willst ein Junge sein? Dann behandle ich dich jetzt auch wie einen." Und dann schlug er zu. Immer und immer wieder.

Ich konnte ihn anflehen aufzuhören, aber ich wollte nicht. Wenn es das hieß, ein Junge zu sein und wie einer behandelt zu werden, wollte ich diesen Schmerz fühlen, das Blut schmecken und mein gebrochenes Herz spüren.
Aber Nick hat sich verändert. Er ist nicht mehr so egoistisch und kaltherzig.
Nein, er ist liebevoll, in der Art, wie er mich ins Bett legt und auf meine Bitte hin die Arme um mich legt, um mich fest zu halten.
Er ist zärtlich, in der Art, wie er mich an sich presst und seine Lippen von meiner Wange aus über meine Lippen streifen.
Er ist sanft, in der Art, wie er nach dem geduldigen Erkunden meines Körpers in mich eindringt und mir das Gefühl gibt, geliebt zu werden, wirklich geliebt zu werden, ohne eine Kleinigkeit an mir ändern zu müssen.
Er sorgt dafür, dass ich mich wohlfühle. Dass ich alles vergesse und das bedeutet in diesem Moment mehr als es sich beschreiben lässt.

Einige von Euch mussten diese Woche wieder in die Schule und vielleicht auch schon wieder auf die Arbeit.
Deshalb wünschen wir Euch ein besonders erholsames Wochenende und hoffen, ihr habt die Woche gut überstanden. 😇🙂

Cupid42hearts

Real me [BoyxBoy] + Cupid42hearts Where stories live. Discover now