- Kapitel 96 -

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Amara
09:54 Uhr

"Wir sind gegen 17 Uhr in Phoenix.", teilt er mir mit, während ich meine Schuhe anziehe.

Wie selbstverständlich nimmt er meine Reisetasche und trägt sie nach unten ins Auto. Auch wenn es draußen warm ist, ziehe ich meine Blazer über und betrachte mich abschließend in dem großen Spiegel im Flur.

Wie wäre mein Leben, wenn alles anders gelaufen wäre?

Was wäre gewesen, wenn nicht ich diesen Mord gesehen hätte und den Zettel gefunden hätte? Hätte Miguel sich in ein anderes Mädchen verliebt?

"Gut siehst du aus. Können wir?", macht er mir schnell ein Kompliment und lehnt sich in den Türrahmen.

"Danke.", flüstere ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und will an ihm vorbei, als er mich vorsichtig am Unterarm festhält.

"Was ist los, mi Amor?", spricht er leise, während er mich zu sich ran zieht und mit dem linken Zeigefinger eine Strähne hinters Ohr klemmt.

"Ich bin erschöpft, das ist alles.", zwinge ich mir ein Lächeln auf.

Er seufzt.
"Du sollst mich doch nicht anlügen.", erinnert er mich ruhig und schaut mir abwechselnd in beide Augen.

"Mache ich nicht.", schüttel ich den Kopf.

"Ist es wegen unserem Gespräch heute Abend?", lässt er nicht locker. Miguels Hand umfasst noch immer sanft meinen Unterarm und auch sonst scheint er nicht den Eindruck zu machen, als würde er Abstand von mir nehmen wollen.

Wenn er so weiter macht, werden wir mit Sicherheit nicht pünktlich in Phoenix sein.

"Wir müssen los, sonst kommst du zu spät zu deinem Termin.", erinnere ich ihn und deute auf seine teure Uhr.

Miguel führt stumm seine Hand an mein Kinn und zwingt mich ihn anzusehen.
"Der Termin kann warten, wenn es meiner Frau nicht gut geht und ihr etwas auf dem Herzen liegt."

Seine Worte beruhigen mich.
Sie lassen mich wohlfühlen.

Sicher und respektiert.

Vor einigen Jahren hätte Miguel mich angemeckert, wenn ich nicht sofort gekommen wäre oder wenn er wegen mir hätte Dinge verschieben müssen. Heute nimmt er sich die Zeit für mich, verschiebt seine Termine und tut alles dafür, dass es mir gut geht.

"Ich bin nicht fair zu dir.", flüstere ich und versuche meine Tränen zu unterdrücken, indem ich meinen Blick abwende.

Er runzelt die Stirn.
"Wie kommst du darauf?"

"Du weihst mich in dein Geschäft ein, lässt mich bei Geschäftstreffen dabei sein, telefonierst neben mir. Und ich wollte dich nicht einmal nach Kolumbien mitnehmen.", hauche ich mit zitternder Stimme, weil er mir Leid tut.

"Mi Amor.", lacht er plötzlich laut.

Stirnrunzelnd und verheult zugleich schaue ich ihn an.

"Das ist geschäftlich. Schon vergessen? Das sind zwei verschiedene Sachen. Ich werde dir niemals etwas übel nehmen, wenn es ums Geschäft geht. Aber das du ein schlechtes Gewissen hast, zeigt mir, dass du eigentlich unschuldig und rein bist.", lacht er immer noch.

"Hör auf zu weinen wegen sowas.", küsst er lachend meine Wange und zieht mich zu ihm heran.
"Ich hatte nur ein einziges Mal ein schlechtes Gewissen und das war, weil ich dir und deiner Familie schlimme Dinge angetan habe. Dein Gewissen darf bei geschäftlichen und beruflichen Angelegenheiten keine Rolle spielen. Ansonsten kommst du in diesem Geschäft nicht weit, comprende Señora Jimenez?"

Da war er wieder.

Der Miguel, den ich nicht wieder erkenne.

Der Miguel, der plötzlich lachen kann. Der echt lachen kann. Der mir hilft und mir Sachen erklärt, anstatt mich anzuschreien für Dinge, von denen ich keine Ahnung habe.

Der Miguel, den ich erst nach der Hochzeit so richtig kennengelernt habe. Der Miguel, der vor einigen Jahren ab und zu durchgeblickt hat, und der mir immer Hoffnung gegeben hat, dass ich diesen Miguel bald für immer haben werde.

Der Miguel, der es mir so schwer gemacht hat, den alten Miguel zu verlassen.

"Es tut mir so Leid." flüstere ich.

"Es muss dir nichts Leid tun. Du beschützt dein Geschäft und du hast bei weitem nicht die Erfahrung, die ich habe. Es ist völlig normal, dass du niemandem dein Geschäft anvertraust, außer deinen Leuten. Und darauf bin ich stolz, hörst du?"
Intensiv schaut er mir in die Augen und wartet geduldig auf meine Zustimmung.

"Wie kann ich dieses Gewissen abschalten?", jammere ich peinlich berührt und wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

"Zeit. Das braucht Zeit, aber irgendwann kannst du es außeinander halten.", schmunzelt er und küsst mich kurz.

"Haben wir alles geklärt oder möchtest du noch was besprechen?"

"Alles geklärt", nicke ich bestätigend.

Miguel lächelt.
"Wenn du heute Abend auch nur einen Funken Mitleid hast, dann Gnade dir Gott, Princesa.", droht er mir schmunzelnd und legt seinen Arm um meine Schulter, um mich vor die Tür zu ziehen.

Kichernd atme ich seinen frischen Duft ein. Minze und ein wenig Zigarettenrauch, aber nur ganz leicht.

"Hast du alles?", geht er sicher, bevor er die Tür zuzieht.

"Si.", nicke ich und schaue kurz auf den Boden. Seine schwarzen, blitzblanken Lackschuhe und meine glänzenden Highheels geben ein gefährliches Bild ab. Plötzlich fühle ich mich neben ihm so stark, wie selten zu vor. Ich kriege das Gefühl als könnte wir beide jetzt sofort ganz Südamerika an uns reißen und niemand könnte uns etwas anhaben.

Niemand kann uns aufhalten.

"Bist du bereit für 7 Stunden Autofahrt?", jubelt er lustlos und führt mich zu seinem Auto, wo er mir anschließend die Tür aufhält.

"Ich kann mir gerade nichts besseres vorstellen.", verdrehe ich die Augen und setze mich grinsend ins Auto.
Bevor er die Tür schließt, beugt er sich noch kurz zu mir ins Auto und zwinkert mir schnell zu. Ich atme tief durch, nachdem er die Tür geschlossen hat und elegant ums Auto herumläuft.

Als er sich vor der Motorhaube noch eine Zigarette anzündet und sich lässig gegen das Auto lehnt und entspannt den Rauch auspustet, während er auf seinem Handy herumtippt, wird mir klar, dass das der Moment gewesen ist, der mir gezeigt hat, dass ich eine Zukunft mit ihm möchte.

Privat und Beruflich.

Dieser Moment hat mir gezeigt, dass ich zusammen mit Miguel ganz Südamerika übernehmen will.

Nicht alleine, nicht gegen ihn.

Mit ihm.

Miguel drückt die Zigarette auf dem Asphalt aus und setzt sich zu mir ins Auto.
"Schau mal."

Ich nehme ihm sein Handy aus der Hand und schaue mir das Bild an.

"Hat Sofia mir gerade geschickt, ist von der -"

"Hochzeit.", beende ich seinen Satz flüsternd.

"Ja.", fügt er belustigt hinzu.

Es zeigt uns beim Tanzen. Er hat mich dicht an sich gedrückt, seine Hand liegt auf meinem unteren Rücken. Wir stehen seitlich, sodass man sieht, wie ich zu ihm hochgucke. Auf Miguels Gesicht liegt ein zufriedenes, leichtes Lächeln. Ganz leicht zeigen seine Mundwinkel nach oben.

"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass du dich in diesem Moment in mich verliebt hast.", ärgert er mich und startet den Wagen.

"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass du dich in diesem Moment in mich verliebt hast.", kontere ich, weil er mich mindestens genauso verliebt anschaut.

"Nein.", schüttelt er den Kopf und biegt auf die Straße ab.
"In diesem Moment habe ich realisiert, dass ich nie aufgehört habe dich zu lieben."

La Reina de MexicoWhere stories live. Discover now