Ein neues Gefühl

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Mit einem völlig wahnsinnigen Gesichtsausdruck lief Henry auf Stanley zu. In Panik igelte sich Stanley immer mehr ein. Er wusste, dass er drei Schutzengel brauchte, um das zu überleben. 

„H-H-Henry bitte...", druckste er zwischen kleinen Schnappatmungen. 

Henry genoss es einen Moment lang den Jungen voller Angst am Boden liegen zu sehen. Er riss die Hand mit dem Stock weit nach oben, als wolle er jeden Moment auf Stanley einstechen. Stanley schrie auf und zuckte zusammen. Henry fing an zu lachen. Er täuschte einen Schlag nach Stanley vor. Dieser lag am Boden, fing an zu weinen. 

„Wieso hilft mir keiner", flüsterte Stanley in einem so leisen Ton vor sich hin, dass Henry diese Worte kaum vernehmen konnte. 

Doch diese Worte lösten etwas in Henry aus. Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von einem irren Lachen in ein sehr ernstes und nachdenkendes Gesicht. Langsam ließ er die Hand, in welcher sich der Stock befand sinken. 

Die Worte, die Stanley ausgesprochen hatte, kannte er nur zu gut. Plötzlich kam ihm die Erinnerung hoch. 

Vor ein paar Jahren, als er noch kleiner war traf sich sein Vater mit ein paar Kollegen in einer Kneipe, so wie sie es jeden Tag nach der Arbeit getan hatten. Henry war zu Hause und musste wie immer schwer auf dem Feld schuften. 

Als er endlich mit der Arbeit fertig war, ging er ins Haus, lief zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier und setzte sich in den Sessel seines Vaters. Er lehnte sich zurück, nahm einen Schluck und stellte das Bier auf die Armlehne des Sessels. 

Henry war so erschöpft, dass er für einen kurzen Augenblick einnickte. Als er bemerkte, dass sich seine Augen immer mehr schlossen, zuckte er auf und warf dabei das Bier um. Zu seinem Pech landete es auf dem Sessel und zog sofort ein. Voller Panik rannte er in die Küche und holte sich ein nasses Tuch. Er versuchte den Fleck aus dem Sessel zu bekommen, doch es ging nicht alles raus. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was sein Vater mit ihm anstellen würde, wenn er es bemerkt. Nicht nur, dass ein riesiger Fleck auf dem Sessel ist, an das Bier durfte Henry auch nicht. Wenn sein Vater auf ihn richtig stolz gewesen ist, was äußerst selten vorkam, beispielsweise wenn Henry die Nachbarn terrorisierte, indem er ihnen Müll in den Garten warf oder ähnliches, gab er ihm zur Belohnung ein Bier. Für Henry war es das Größte, gemeinsam ein Bier mit seinem Vater zu trinken, doch jetzt hatte er es sich einfach genommen. 

Als Henry noch in den Gedanken war, wie er den Fleck möglichst gut verstecken konnte, stand sein Vater auch schon in der Tür. Er sah Henry mit einem fragenden Blick an, schaute dann auf den Sessel und kurz darauf auf das Tuch, in Henrys Hand. Er kochte vor Wut. Was dann geschah, konnte man unmöglich in Worte fassen. Henry hatte seinen Vater noch nie so wütend, so gereizt erlebt, wie an diesem Abend. 

Es war bis heute das schlimmste Ereignis. Seitdem hatte er noch mehr Angst vor seinem Vater. 

Nachdem sein Vater seine Wut an ihm ausgelassen hat, kauerte sich Henry in eine Ecke und sprach genau die Worte aus, welche Stanley vor wenigen Sekunden noch aussprach. 

Die Worte wiederholten sich in seinem Kopf. 

Mit jeder Wiederholung nahm er seine Hand ein wenig runter. Stanley, der nun die Hände ein wenig von seinem Gesicht wegnahm, starrte Henry ungläubig an. Dieser schaute zu Boden und atmete etwas schwerfällig. 

Stanley schluchzte. 

Henry warf sein Blick zu ihm und nahm nun die Hand komplett runter. 

„Los, mach das du wegkommst", drohte Henry. 

Er konnte nicht auf Stanley einschlagen. Egal wie sehr er es jetzt gewollt hätte, eines der Kinder, welche ihn vorhin angegriffen hatten, nun ordentlich zu verdroschen, er konnte es nicht. Er wusste, wie er sich damals gefühlt hatte.

Er wusste wie es ist, wenn niemand zur Hilfe kam. 

„Na los! Verschwinde endlich", brüllte Henry ein zweites Mal zu Stanley, welcher immer noch nicht aufgestanden war, da der Schock noch tief in ihm drinsaß. 

Mit wackligen Knien rappelte er sich auf und schaute Henry an. 

„Wieso...", fragte Stanley. 

Es war nicht wirklich an Henry gerichtet, vielmehr an die Gesamtsituation. 

„Es wäre nicht fair, jemanden der verletzt ist und zudem keine Waffe besitzt, anzugreifen", versuchte Henry sich rauszureden. 

Stanley erkannte Henry nicht wieder. Normalerweise wäre er mit mindestens einem blauen Auge und ein paar gebrochenen Rippen nach Hause gegangen. Doch Henry tat ihm nichts. Rein gar nichts. Nicht mal ein kleiner Schnitt mit dem Stock oder ein Tritt gegen das Schienbein. 

„Wir haben uns nie getroffen, klar?" 

„Klar", antwortete Stanley verunsichert. 

„Na los, geh schon." 

Stanley versuchte wegzulaufen, doch der Schmerz in seinem rechten Fuß hielt an. Er humpelte ein paar Meter, bis er wieder zu Boden fiel. 

Auch das noch, dachte sich Henry. 

Er konnte ihn jetzt nicht einfach liegen lassen. Sein schlechtes Gewissen holte ihn ein. Er musste daran denken, wie Ava ihm geholfen hat, als er völlig zusammengekauert am Auto saß, daran, wie sie ihm zu Hilfe kam. 

Sie hat ihm geholfen, als er Hilfe brauchte und nun war er selbst an der Reihe. Er lief zu Stanley und kniete sich zu ihm runter. 

„Zeig her", sagte er und nahm seinen Fuß. 

Er wickelte die Socke ein wenig runter und sah, dass sich ein Stachel über dem Knöchel befand. Stanley starrte Henry an, als hätte er einen Geist gesehen, war ihm aber auch zu gleich dankbar. Wow, das hätte er nie gedacht, dass Henry Bowers ihm einmal helfen würde. Schon gar nicht, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, ihn ordentlich zu verprügeln. 

„Das kann etwas wehtun", meinte Henry, als er seine Hand an den Stachel lag. 

Stanley nickte und kniff die Augen zu. Henry zog den Stachel mit einem Ruck heraus. So schlimm war es gar nicht. Es blutete leicht. Henry nahm ein Tuch aus seiner Hosentasche und wickelte es um das Fußgelenk von Stanley. 

„Das hier ist nie passiert", sagte er und warf Stanley einen ernsten Blick zu. 

Dieser nickte erneut. Er brachte keinen Ton raus. Als Henry fertig war half er Stanley hoch. 

„Und jetzt geh." 

Das Laufen ging nun viel besser. 

Als Stanley schon ein kleines Stück voraus war drehte er sich um und sagte: „Danke." 

Henry verstand noch nicht ganz, was passiert war. Das wäre seine Chance gewesen, sich zu rächen. Danach wäre sein Universum wieder im Gleichgewicht gewesen. Doch dieses kleine Wort 'Danke' löste etwas in ihm aus. 

Etwas, das viel besser war, als das Gefühl von Rache. 

Ein Gefühl, das er noch nicht kannte.



The Story of Henry Bowers Où les histoires vivent. Découvrez maintenant