Kapitel 79 - Offenheit

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Dort standen wir nun und blickten uns tief in die Augen. Normalerweise wurde ich bei solchen intensiven Momenten verlegen und wandte den Blick sofort ab, aber etwas hielt mich davon ab es zu tun. Etwas in mir sehnte sich nach diesen Augen, nach diesem liebevollen Blick, den er mir schenkte. Es war merkwürdig, nach all der Zeit, nach allem was in den letzten Monaten, nein, viel eher im letzten Jahr alles passiert war. Ich habe so vieles erlebt und durchgemacht, hatte meine Hochs und Tiefs. Und so wie damals diese Reise begonnen hatte, mit einem Blick in seine Augen, so schienen wir nun hier gelandet zu sein, mit einem einzigen Blick. Dazwischen lag einfach so vieles...
"Ich glaube, wir können das Essen anrichten." Vincent blinzelte einmal kurz und löste sich dann aus seiner Starre, um wenig später die Teller aus dem Schrank holen zu können, welche er anschließend in das Wohnzimmer brachte. Dasselbe tat er mit den Töpfen, in denen das Essen serviert wurde. Als er auch damit fertig war, kam er erneut zurück in die Küche und fand mich noch immer am selben Fleck stehend, wie zuvor auch schon, vor.
"Träumerle?" Vorsichtig stubste er mit seinem Finger gegen meine Nase.
Mein Körper zuckte zusammen und sofort suchten meine Augen nach ihm. Mit einem Fragezeichen im Gesicht stehend blickte ich ihn an, darauf wartend, das er etwas sagte.
"Wir wollen Essen, kommst du?"
Hatte er die Situation etwa absichtlich beendet? Wurde es ihm vielleicht zu unangenehm?
"Ich bekomme ein wenig Angst, wenn du nichts sagst. Na komm schon!" Vincent lächelte mich breit an und zog mich schließlich mit ins Wohnzimmer zu den Anderen.
"Wir waren schon einmal so frei und haben uns aufgefüllt.", sagte Dag und reichte mir den Auffüller für die Spaghettis.
"Danke.", sagte ich kleinlaut und füllte mir als nächste auf.

"Das war wirklich lecker. Danke fürs Kochen.", sagte Jana und machte es sich auf der Couch neben Franzi gemütlich.
"Dem kann ich nur zustimmen. Sollen wir beim Abwasch helfen?", fragte die junge Blondine mich.
Schnell schüttelte ich den Kopf und balancierte drei Teller auf meinen Händen. "Ich mach' das schon."
"Du bist ja heute so über eifrig. Normalerweise werde ich nie so bedient von ihr.", protestierte Dag, unterstrich seine Worte jedoch ebenfalls mit einem Lachen.
"Dann schätze dich heute einfach mal glücklich.", kicherte ich und verschwand wenig später in der Küche, wo ich das Geschirr in die Spülmaschine steckte.
"Hier sind noch zwei Teller." Jana hatte es geschafft sich von der Couch zu erheben und mir nun doch ihre Hilfe anzubieten.
"Danke dir."
Nachdem sie mir die Teller übergeben hatte, blieb sie noch eine Weile stillschweigend stehen. Ich hatte das Gefühl, dass ihr etwas auf der Seele brannte, doch irgendetwas schien sie daran zu hindern, offen mit mir zu reden.
"Okay, willst du noch lange so da stehen oder sagst du mir endlich was los ist?", fragte ich sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.
"Ich... ich habe mich nur gefragt, naja du und Vincent... besteht da Hoffnung? Ich meine, ihr beide wirkt immer noch so vertraut miteinander und euch zwei zusammen zu sehen, macht einen irgendwie... glücklich. Du weißt, ich stehe immer hinter dir, egal was für eine Entscheidung du triffst in deinem Leben. Aber ich muss dir auch sagen, dass ich finde, dass Vincent eine Chance verdient hat. Zumindest in der Hinsicht, dass er sich vielleicht mal erklären kann. Oder weißt du, warum genau das vorgefallen ist? Weißt du was überhaupt zwischen den beiden vorgefallen ist?"
Jana's Worte trafen mich ungemein, mitten ins Herz. Eigentlich war sie immer eher eine schweigsame Person, wir verstanden uns oft ohne große Worte. So ehrlich hatte sie bisher kaum mit mir gesprochen und ich war ihr sehr dankbar für diese Offenheit.
Mit einem sanften Lächeln schloss ich meine beste Freundin in die Arme und atmete tief ein und wieder aus.
"Danke Jana, danke für alles."
"Nanu, was geht denn hier vor sich? Gruppenkuscheln?"
Dag schaffte es immer wieder solch rührende Momente mit seinem Auftreten zu runinieren. Und trotzdem konnte ich ihm deswegen nie böse sein.
"Vergiss es Dag, es ist alles gut.", winkte ich ab und löste mich aus der Umarmung. "Was willst du denn hier?"
"Ich wollte nur bescheid sagen, dass Whynee los gefahren ist. Er wollte euch nicht stören, deshalb ist er einfach so gegangen."

Ohne auf ein weiteres Wort zu warten, hastete ich an den beiden vorbei und eilte aus der Tür hinaus. Ich übersprang mehrere Stufen gleichzeitig und war einmal kurz davor ins Straucheln zu geraten. Unten angekommen riss ich die Eingangstür auf und rief Vincent hinterher.
Gerade noch rechtzeitig, denn er saß bereits in voller Montur auf seinem Motorrad, inklusive gestarteten Motor.
Als er mich erblickte, hielt er einen Moment inne und schien darauf zu warten, dass ich näher kam.
"Du kannst doch nicht einfach so gehen ohne Tschüss zu sagen. Das ist unhöflich.", meinte ich vollkommen außer Atem.
Der junge Berliner schaltete den Motor ab und nahm seinen Helm noch einmal ab.
"Dachte Dag hätte bescheid gegeben."
"Hat er ja auch, aber das ändert ja trotzdem nichts an deiner Unhöflichkeit."
"Meiner... Unhöflichkeit?" Schmunzelnd sah er auf mich herab und hing seinen Helm um einen der Griffe. "Na gut, es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich dir gegenüber sein. Also verabschiede ich mich jetzt ordentlich von dir, ja?"
Dieses dämliche Schmunzeln auf seinem Gesicht verriet mir gleich, dass er mich und meine Worte nicht ernst nahm. Und ich konnte nicht anders, als in ein herzliches Lachen auszubrechen, in welches Vincent kurze Zeit später mit einstimmte.
"Es war schön, dass du noch zum Essen geblieben bist. Danke dafür.", meinte ich und strich mir dabei eine Haarsträhne hinter mein rechtes Ohr.
"Mich hat es gefreut und bedanken brauchst du dich nicht. Ich bin eher derjenige, der sich bedanken sollte. Ich bin wirklich froh darüber, dass kein böses Blut zwischen uns herrscht und wir vernünftig miteinander umgehen können. Das hat mir... gefehlt.", gestand er kleinlaut und wandte dabei seinen Blick von mir ab.
Einen kurzen Moment brach eine Stille über uns ein, die ich sofort zerbrechen wollte, bevor sie sich unangenehm anfühlen würde.
"Du, Whynee?"
"Ja?"
"Wir wollen morgen an einen Badesee fahren, hier in der Nähe soll der wohl liegen. Ich glaube, als Kinder waren wir dort auch schon einmal. Naja ich hatte gedacht, falls du noch nichts vor hast und du eventuell Lust hast, ob du ... naja, ob du nicht gerne mitkommen magst."
Die Überraschung stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und ich hatte das Gefühl, sein krampfhaftes Suchen nach einer Antwort, klar in seinen Augen sehen zu können.
"Wenn die anderen nichts dagegen haben, komme ich sehr gerne.", lächelte er und sah mich nun auch wieder direkt an.
"Mir egal was die anderen sagen. Ich möchte sehr gerne, dass du kommst."

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