Kapitel 54 - Einmal Zeit anhalten bitte

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Zwischen Dag und Vincent herrschte auch am nächsten Morgen noch immer eine eisige Stimmung. Den Grund dafür wollte mir jedoch weiterhin niemand genau erläutern und ich hatte es aufgegeben bei den Beiden weiter nachzubohren.
Der Probentag verlief ... schleppend. Der Zeiger der Uhr wollte einfach nicht vorwärts gehen und irgendwie schien heute kaum etwas richtig zu funktionieren. Die Lieder mussten immer wieder von vorne gestarten werden und die sonst so heitere und lockere Stimmung vom gestrigen Tag war heute kaum spürbar - zumindest nicht bei dem Großteil der Crew.
Entweder sie hatten von gestern Abend alle einen Kater gehabt oder aber die schlechte Laune von Vince und Dag steckte alle an.
Ich hätte einen Jubelschrei auslösen können, als die Proben endlich zu Ende waren und es Zeit war zu gehen - so musste ich nicht weiter dieses Desaster hier ertragen.
"Du siehst müde aus.", meinte ich, als ich geradewegs auf Dag zuging.
"War ne kurze Nacht.", lächelte er mich kurz an.
"Wollen wir noch zusammen ne Kleinigkeit Essen gehen? Oder einen Kaffee trinken gehen?"
Leicht schüttelte Dag den Kopf und warf sich seine Sporttasche über die Schulter.
"Mach du dir nochmal nen schönen Tag mit Vincent, bevor wir wieder auf Tour gehen. Glaube, das ist besser."
"Warum sagst du das? Das klingt so, als würde ich viel lieber mit ihm etwas unternehmen, als mit dir. Du weißt doch, dass du mir ebenso wichtig bist.", sagte ich mit einem kleinen Schmollmund.
"Ich weiß aber, dass er noch ne Kleinigkeit für euch geplant hat. Mach dir um mich mal keine Sorge. Sobald die Tour vorbei ist, nehmen wir uns auch etwas Zeit zu Zweit, ja?"
"Er hat was geplant? Ja aber..."
"Fiona kommst du?" Vincent's Ruf ließ mich meine Frage nicht weiter zu Ende stellen.
"Versprochen?", fragte ich Dag.
"Versprochen. Und nu ab mit dir.", grinste er und drückte mich einmal kurz an sich.
"Wir sehen uns spätestens in Hamburg wieder! Ich bin die, in der ersten Reihe, die deinen Namen schreit.", scherzte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Halt die Ohren steif und lass dich von Whynee nicht ärgern.", flüsterte ich noch an sein Ohr, ehe ich mich von ihm löste und zu Vincent ging.

"Verrätst du mir, wo es hin geht?", fragte ich Vincent, als wir im Auto saßen.
"Wieso sollten wir irgendwo hinfahren?"
"Ach so ein Vögelchen hat mir da was gezwitschert.", grinste ich, doch es verschwand sofort wieder, als ich seinen angesäuerten Blick sah.
"Hör mal, ich finde es echt nicht schön, wenn du und Dag euch streitet. Ich kenne den genauen Grund dafür nicht, aber egal was es ist, es kann doch nicht so wichtig sein, dass ihr eure Freundschaft dafür aufs Spiel setzt."
Bei einer roten Ampel hielt er den Wagen und drehte sich zu mir um.
"Dag und ich kennen uns seit über 20 Jahren. Da muss denke ich noch einiges mit hinzu kommen, damit wir uns voneinander trennen. Mach dir darum also keinen Kopf. Auch wir haben mal Streitpunkte, über die sich nicht so leicht reden lässt. Aber das vergeht auch wieder. Am Freitag startet die Tour und meistens ist dann alles wieder in Ordnung.", versicherte er mir und fuhr nach dem Umschalten der Ampel auf grün, weiter.
Ob mich das nun so wirklich zufrieden stellte, wusste ich nicht. Viel mehr war ich damit beschäftigt herauszufinden, über was sie sich eigentlich gestritten hatten. Es musste etwas mit Maja zu tun und diesem merkwürdigen Geheimnis über die Trennung der Beiden. Aber was hatte Dag damit zu tun?
"Ich kann bis hier deinen Kopf rattern hören. Schaffst du es das auszustellen? Wir sind nämlich gleich da."
Vincent fuhr seinen Wagen über einen kleinen Feldweg, weit ab von dem Trubel der Innenstadt und hielt wenige Augenblicke später an.
"Was machen wir hier?", fragte ich ihn und zog meine Jacke etwas enger zusammen.
"Beim Spazierengehen kriege ich immer einen klaren Kopf. Das Ritual vollziehe ich meistens, wenn wir kurz vor Tourstart sind. Und ich dachte mir, heute können wir das zusammen machen." Lächelnd stieg der Berliner aus und öffnete mir wenig später die Tür.
Da der Weg direkt am Wasser lag, war es dementsprechend windig und kühl und doch hatte die Luft etwas angenehm klares in sich.

Hand in Hand gingen wir den Weg entlang und genossen die Ruhe, die uns beide umgab. Nur das Schnattern der Enten, welches zwischenzeitlich zu hören war, begleitete uns.
"Du, Whynee?"
"Hm?"
"Wenn ... wenn die Tour vorbei ist und die Festivalsaison auch ... dann ... dann nimmst du dir doch wirklich eine Pause, oder?", fragte ich ihn leise.
"Aber sicher doch. Zwei Jahre lang. Natürlich sitze ich nicht nur auf der faulen Haut, den ein neues Album ist schon geplant. Aber die erste Zeit möchte ich ganz für mich haben und natürlich auch für dich.", sagte er lächelnd und drückte einmal kurz meine Hand. "Warum fragst du?"
Ich zuckte mit den Schultern und kickte einen Kieselstein vor mich her.
"Na komm, erzähl schon. Ich seh dir doch an, dass dich da etwas bedrückt."
"Ich ..." Abrupt blieb ich stehen und sah auf den Boden. Ich sammelte all meinen Mut zusammen und sah ihn an, bevor ich weitersprach.
"Ich möchte nach der Ausbildung zu dir ziehen. Ich möchte mir mit dir ein neues Lebeb aufbauen. Ich möchte reisen und das Meer sehen. Ich möchte abends neben dir einschlafen und morgens wieder aufwachen. Ich möchte bei dir sein, Whynee. Und dabei will ich nicht egoistisch sein. Ich will nicht, dass du die Arbeit meinetwegen jemals vernachlässigst, oder deine Musik. Ich möchte, dass du beides unter einen Hut bringen kannst, denn ich weiß, wenn es um deine Musik und deine Arbeit geht, ziehe ich den Kürzeren..."
Ein wenig sprachlos betrachtete er mich und es dauerte ein wenig, bis Vincent seine Sprache wiederfand.
"Ach du, du bist unglaublich süß, wenn du über deine Wünsche und Gefühle sprichst. Jedes Mal sehe ich dir an, wie wichtig dir das ist und es berührt mich sehr zu hören, dass du dein Leben in deiner Kleinstadt hinter dir lassen willst, um zu mir zu kommen. Und was soll ich sagen? Ich nehme dich mit großer Freude bei mir auf.", grinste er und schloss mich sanft und liebevoll in seine Arme.
"Es wird sich für alles eine Lösung finden. Du wirst niemals die Zweite Geige in meinem Leben spielen, egal wie sehr ich die Musik liebe. Ich werde immer darauf achten, dich nicht zu vernachlässigen. Und wer weiß, wenn du bei mir lebst, begleitest du uns vielleicht öfters auf Touren und Festivals. Aber das ist noch in ferner Zukunft."
Ich kuschelte mich eng an ihn und krallte mich sanft in seine Jacke. Ich wusste, sobald ich ihn los ließ, würde es nicht mehr lange dauern und er wäre fort. Wir würden uns nur sporadisch sehen und es würde eine halbe Ewigkeit dauern, ihn dauerhaft wieder in meinen Armen halten zu können. Deshalb hielt ich ihn jetzt so fest wie ich konnte. Ich wollte ihn nicht gehen lassen und diesen Moment am liebsten für immer so festhalten.

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