Kapitel 60 - Stille

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PoV Dag

Ein lautes Jubeln und Applaudieren hallte durch den Saal. Die überwiegend weiblichen Fans riefen unseren Namen und kamen aus dem Kreischen gar nicht mehr heraus. Während die letzten Blumen unseres Straußes verteilt wurden, ging der Vorhang langsam zu. Zum Schluss gab es noch ein paar Luftküsse, dann war auch dieses Konzert endgültig vorbei.
Ef reichte mir ein Handtuch, welches ich dankend annahm und womit ich mir die vielen kleinen Schweißperlen von meinen Gesicht abwischchen konnte. Anschließend legte ich es um meine Schultern und folgte Vincent in den Backstagebereich.
"Das Publikum hat uns beide heute ganz schön Feuer gemacht.", meinte ich grinsend und schnappte mir ein Glas, in das ich mir etwas Gin hinein kippte.
Ich bekam keine Antwort. So, wie die letzten Tage auch schon, wenn ich Vincent irgendwelche Fragen stellte. Oder aber es kamen nur kurze und knappe Sätze aus seinem Mund.
Seit diesem Abend, über den niemand sprach, war er nicht mehr derselbe. Er zog sich direkt nach dem Konzert zurück, war nicht für seine Fans zugänglich und verzog sich meistens schon relativ früh zurück in seine Kabine.
"Du darfst auch gerne nur nicken...", bemerkte ich und nahm einen Schluck von meinem Gin Tonic.
"Ich geh schon einmal zum Bus.", meinte er kurz angebunden und schob seinen kleinen silbernen Trolley vor sich her.
"Dickerchen?"
Vincent blieb stehen, mit dem Rücken zu mir gewandt.
"Kann ich dir irgendwie helfen oder dir etwas gutes tun?", fragte ich ihn.
"Da muss ich alleine durch. Ich habe es nicht anders verdient." Mit diesen Worten setzte er seinen Weg fort und ich blieb mit einem riesen Fragezeichen im Kopf zurück.

"Ist das euer voller Ernst?" Ef sah mich mit großen Augen drei Tage später an und blickte zwischen Vincent und mir hin und her.
"Ist es. Du kannst dir aussuchen, wie du dich entscheidest."
"Ihr macht mich fertig, Jungs. Aber mir bleibt wohl keine andere Wahl. Ich kümmere mich darum."
Vincent und ich verließen den Raum und hatten Ef vor eine Wahl gestellt, die er vermutlich nicht haben wollte.
Es hieß, entweder wir oder Maja.
"Du hättest das nicht machen müssen.", murmelte Vince und ließ sich auf der schwarzen Ledercouch in unserem Zimmer nieder.
"Spinnst du? Natürlich hätte ich das. Ich konnte nicht weiter zulassen, dass sie hier alles auf den Kopf stellt. Eigentlich ... hätten wir das gleich von Anfang an machen sollen.", seufzte ich und nahm neben ihm Platz.
"Vermutlich..."
Die letzten Tage unserer Tour waren angebrochen. Die kommenden Konzerte waren ausverkauft und eines davon würde in unserer Heimatstadt stattfinden. Danach war erst einmal bis zum Sommer Pause gewesen, die Zeit brauchten wir alle definitiv, vor allem Vincent.
Ich verschwieg ihm, dass ich öfters mit Fiona schrieb. Er sollte sich nicht irgendwie von mir hintergangen fühlen oder ähnliches. Beide waren mir einfach so verdammt wichtig und auch mir schmerzte es irgendwo, dass die Beiden von nun an getrennte Wege gingen.
Ich zückte mein Handy und hielt sie auf dem Laufenden, im Bezug auf Maja und ihrem Rausschmiss. Oft musste ich genau überlegen, was ich ihr schreiben konnte und was nicht, ohne dabei bei ihr direkt einen Schmerz auszulösen. Ich wusste, dass es ihr genau so mies ging, wie es meinem Kumpel auch ging. Am liebsten hätte ich beide in einen Raum gesperrt, wo sie nichts anderes tun konnten, als sich auszusprechen.
Ja, Vince hatte gewaltige Scheiße gebaut, etwas, was mich selbst überraschte. Aber er hätte einfach von Anfang an mit offenen Karten spielen sollen, gerade was Maja anging. Denn es hatte seinen Grund, warum sie plötzlich wieder auftauchte und sich so an ihn heran machte...

Kurz vor unserem letzten Konzert, versammelten wir uns alle noch einmal im Kreis und tranken einen Kurzen auf die Tourzeit, die hinter uns lag und auf die kommende Festivalsaison.
Nachdem unsere Band auf ihre Plätze ging, nahm ich mir Vincent zur Seite und umarmte ihn kurz.
"Wir kriegen das alles wieder hin. Ich bin für dich da Dicker. Egal in welcher Lage du dich auch gerade befindest."
Das erste Mal seit Wochen, erwiderte er die Umarmung etwas länger als zuvor und seufzte dann leise auf.
"Sie fehlt mir so sehr. Ich brauche sie an meiner Seite."
"Ich weiß. Glaub mir, sie fühlt genau so. Irgendwie lässt sich das wieder hinkriegen."
Vincent lächelte mich traurig an. Sein Blick verriet mir, dass er an ein Happy End nicht mehr glaubte, aber er wollte es nicht laut aussprechen, um meine Euphorie nicht zu dämmen.
Wir stellten uns auf unsere Positionen und der Vorgang fiel...

Die nächsten Wochen verliefen ruhig und irgendwie in Stille. Ich nahm mir eine zweiwöchige Auszeit vom Alltag und flog mit einem Kumpel auf die Malediven, auf denen ich nichts anderes tat, als in der Sonne zu bruzzeln und aus Kokusnüssen zu trinken. Vincent war selbstverständlich wieder in seinem Studio tätig, obwohl auch er mal eine Pause verdient hatte. Vermutlich brauchte er aber seine Arbeit jetzt dringender als zuvor.
Einen großartigen Kontakt hatten wir nicht miteinander, was nichts heißen musste. Spätestens wenn die Festivalvorbereitung anfing, würden wir wieder oft genug aufeinander hocken und nicht mehr voneinander los kommen.
'Genieß die Sonne und trink eine Kokosnuss für mich mit.'
'Mach ich Kleines, genieß deine freie Zeit und glückwunsch, zu den geschafften Prüfungen. Ich bin stolz auf dich.', tippte ich in mein Handy und drückte wenig später auf senden.
'Hihi, danke. Ich bin auch mega froh darüber. Hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.'
'Bestimmt.'
Auch der Kontakt zu Fiona wurde in den letzten Wochen immer sporadischer. Sie hatte viel mit ihren Prüfungen zu tun und vermutlich auch mit ihrer Trauer. Zu gerne wäre ich bei ihr gewesen und hätte ihr eine starke Schulter zum Anlehnen geboten. Aber uns trennten immer noch fast 300km, die für jemanden, der keinen Führerschein mehr besaß, nicht ganz so einfach zu bewältigen waren.

Alles in allem war es keine schöne Zeit, für niemanden von uns drei.
Die tollen Momente zusammen in Berlin, die wir gemeinsam ausgemalt hatten, konnten wir nicht mehr in die Tat umsetzen. Den Umzug nach Berlin ihrerseits, war nun auch ins Wasser gefallen.
Ich zog an meiner Kippe und pustete den Rauch ins Leere. Vielleicht würde der Kontakt zu ihr immer weniger werden und am Ende war es so wie vor einem Jahr: wir hatten einander schon fast vergessen.

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