Kapitel 89 - Du ziehst weg?

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Geduckt lugte ich aus dem Auto heraus und beobachtete Maja, wie sie mit einer großen Tasche den Hauseingang verließ, indem Vincent seine Wohnung lag. Stirnrunzelnd versuchte ich mir daraus einen Reim zu machen, aber auf eine wirklich plausible Erklärung kam ich dabei nicht. Zumindest schien er Zuhause zu sein, also konnte ich ihn wenn auch gleich direkt fragen. Zum Glück hatte Maja mich nicht bemerkt, denn sonst hätte sie mir vermutlich dieses mal wirklich einen Anwalt auf den Hals gehetzt.
Rasch griff ich nach meiner Tasche und verließ das Auto, um kurz danach über die Straße gehen zu können und an Vincent seinem Klingelschild klingeln konnte.
"Hast du noch was vergessen?, erklang aus der Gegensprechanlage.
"Ich bin's, Whynee.", sagte ich und biss mir dabei auf die Unterlippe.
Sofort erklang der Türsummer und ich drückte die Tür auf. Die vielen Stufen hatte ich ganz und gar nicht vermisst zu seiner Wohnung rauf - wieso gab es hier keinen Fahrstuhl?
Oben angekommen empfing mich Vincent mit einem leicht verwunderlichen Ausdruck, doch auf seinen Lippen lag ein liebevolles Lächeln.
"Was für eine Überraschung, wie komme ich zu der Ehre?", fragte er mich und begrüßte mich mit einer sanften Umarmung.
"Einiges, aber nur, wenn ich dich nicht störe."
"Nein, nein alles okay. Es... es sieht nur etwas chaotisch bei mir aus.", gab er zu und ließ mich in seine Wohnung eintreten.
Vincent war kein chaotischer Mensch, alles in seiner Wohnung hatte seinen Platz und die Sauberkeit lag auf einem extrem hohen Level - und das obwohl er ein so vielbeschäftigter Mann war. Deshalb konnte ich mir kaum vorstellen, was er unter chaotisch verstand, doch als ich die Wohnung betrat, stolperte ich über die erst beste Kiste und fiel im geraden Bogen auf den Boden.

"Oh Gott Fiona, bist du verletzt?" Vincent stand mir so schnell zur Seite, dass ich gar nicht richtig realisieren konnte, was eben geschehen war. Mit seiner Hilfe stand ich kurze Zeit später wieder auf den Füßen und sah nun um mich. Der Flur war überfüllt mit Kisten und Kartons. Die Bilder, die zuvor an den Wänden hingen, waren ordentlich verpackt und es wirkte mit einem Mal alles so kahl und ungemütlich.
"Was geht denn hier vor sich? Ziehst du etwa weg?", fragte ich scherzhaft und ließ dabei ein Lachen aus meiner Kehle erklingen.
"Naja um ehrlich zu sein .. ja."
Mein Lachen blieb mir im Halse stecken und ich verschluckte mich beinahe daran. Es fühlte sich an, als überfuhr mich eine kalte Welle der Panik, gepaart mit Angstschweiß und dem Entweichen meinen Gesichtsfarbe.
"He' ganz entspannt! Ich ziehe nur um, Berlin verlasse ich nicht.", versicherte mir Vincent schnell, nachdem er meinen Anflug von Panik mitbekam.
"Seit wann ist das geplant? Wann ziehst du weg? Wo ziehst du genau hin?", fragte ich ihn schnell.
"Ich habe mir ... ich habe mir ein kleines Häuschen gekauft, ganz in der Nähe vom Studio, etwas abseits vom Trubel Berlins. Ich wollte einfach raus hier.", erklärte er mir und führte mich dabei an den Kartons vorbei, hinein ins Wohnzimmer, das ebenso kahl war, wie der Flur. "Naja und ich bin eigentlich schon seit dem Ende der Festivalsaison dabei zu packen."
"So lange schon? Und du hast nichts gesagt?", fragte ich ihn fassungslos.
"Ich wusste nicht, ob es dich interessieren würde. Unsere Beziehung war nicht gerade die Beste zu dem Zeitpunkt."
"Aber auch nicht die schlechteste. Warum verschweigen mir z.Zt nur alle etwas? Kann mir denn niemand mehr vertrauen?", fragte ich seufzend und stellte mir diese Frage eher mir selbst.
"Was genau meinst du damit?", fragte er sichtlich verwirrt.
"Ach nichts, schon gut. Zu wann... zu wann ziehst du denn da ein?"
"Nächstes Wochenende. Ich habe ein Umzugsunternehmen engagiert. Ich wollte dich vorher noch fragen ob du helfen magst. Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du es so erfährst."
"Den Spruch habe ich heute schon einmal gehört, danke dafür."
Ich blickte mich in der fast leerstehenden Wohnung um, bis ich wieder bei Vincent stehen blieb.

"Magst du ... irgendetwas trinken?", fragte mich der Berliner und wirkte dabei ein klein wenig unbeholfen.
"Nein schon gut, ich ... ich will auch nicht weiter stören.", sagte ich und machte mich zum Gehen auf.
"Du gehst schon wieder? Aber du bist doch gerade erst gekommen!"
Vincent versperrte mir den Weg mit seinem Arm, sodass ich stehen blieb.
"Irgendetwas wolltest du doch hier, oder etwa nicht?"
"Ja schon, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Dein Umzug steht bevor und da hast du genug zu tun. Wir reden ein anderes Mal." Mit einem kleinen Lächeln sah ich ihn an, während ich seinen Arm zur Seite nahm, um die Wohnungstür zu erreichen.
"Na gut .. aber du weißt, ich bin jederzeit da für dich."
"Jaja, alles gut, ich weiß.", winkte ich schnell ab und verabschiedete mich dann von ihm.
Ich ging mit schnellen Schritten zu meinem Auto und setzte mich sogleich hinein. Mein Kopf lehnte sich gegen das Lenkrad und ich stieß einen lauten und gequälten Seufzer aus.
Der heutige Tag schien genau so zu enden, wie er begonnen hatte - fürchterlich. Nicht nur das alles schief zu laufen schien, jetzt verheimlichten mir meine zwei besten Freunde auch noch etwas, gleichzeitig und am selben Tag.
Ich fühlte mich verletzt, ich hatte geglaubt, dass die beiden mich an ihrem Leben teilhaben ließen und bei solch großen Veränderungen, mich zumindest vorab ein wenig informieren würden.
Aber vielleicht hatte sich unsere Beziehung auch einfach verändert nach dem großen Bruch im Winter. Vielleicht war einfach nichts mehr so wie früher.
Erst jetzt merkte ich, wie mir vereinzelte Tränen die Wangen hinunter liefen. Ich konnte nicht aufhören mit diesen negativen Gedanken, was nur dazu führte, das ich in ein lautes Schluchzen verfiel.
Wenn ich doch nur die Zeit zurück drehen könnte... was genau hätte ich dann alles anders machen können?
Am Ende des Tages jedoch, hat jeder Weg, den man eingeschlagen ist, jede Entscheidung die getroffen wurde, seinen ganz eigenen Grund und hat mich hier her gebracht und zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin.
Und wenn ich ehrlich war, ich konnte es schlechter haben...

Ein leises Klopfen an meiner Fensterscheibe weckte mich aus meinen trüben Gedanken und ich blickte vorsichtig zur Seite.
Zwei große braune Augen blickten mich sorgenvoll an.
Langsam kurbelte ich das Fenster hinunter und wischte mir die Tränen aus meinem Gesicht.
"Magst du nicht doch noch ein wenig Zeit mit mir verbringen?", fragte er mich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.
Statt ihm zu antworten, kurbelte ich das Fenster wieder hoch und stieg aus dem Auto. Ich kam mir lächerlich vor, lächerlich in dem Sinne, dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitt, weil Dag und Vincent mich mit zwei Nachrichten überraschten, die ich gerne anders hätte erfahren wollen. Aber vielleicht steckte noch etwas anderes dahinter, was in dem jetzigen Zeitpunkt noch nicht ersichtlich für mich war.
Ich schloss mein Auto ab und griff nach der ausgestreckten Hand von Vincent, ehe wir beide dann Hand in Hand zurück in seine Wohnung gingen.

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