Kapitel 15

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Das Problem war nicht der One-Night-Stand. Das Problem war auch nicht, dass Anni und ich vielleicht das zerstört haben, was wir uns den Abend über aufgebaut hatten. Das Problem lag ganz wo anders. Das Problem liegt viel tiefer, aber daran kann und will ich nicht denken, da es auch zugleich die Momente zerstören will, die ich nicht vergessen oder verdrängen will.

Andreas und ich sitzen zur richtigen Zeit wieder im Flugzeug, wobei er auf seinem Platz schnell eingeschlafen ist und ich sitze am Fenster, schaue natürlich nicht raus und versuche die Gedanken zu sortieren. So sehr ich mir gewünscht hätte, es wäre nicht so geendet, wie es geendet ist, zugleich würde ich aber auch nicht wollen, dass das alles nicht zwischen und beiden passiert ist. Es ist doch zum Zerreißen. Egal, was gekommen ist, es wäre für mich nicht in Ordnung gewesen. Hätte ich sie nicht mit reingebeten, dann hätten wir beide uns eventuell niemals wiedergesehen. Sie wäre ihren Weg mit ihrer Band gegangen und ich meinem Weg mit meinem Bruder, ohne, dass wir nochmal etwas voneinander hören. Außer wir wären uns nochmal zufällig über den Weg gelaufen. Wir sind uns die letzten Jahre nicht über den Weg gelaufen, also passiert das jetzt erst recht nicht. Uns verbinden einige Stunden, die ich allerdings nicht einfach hinter mir lassen könnte. Ich kann das, was in München passiert ist, nicht einfach in München lassen, so gerne es ein Teil von mir auch können möchte. Ein zu großer hält sich daran fest und will ihn behalten. Den Moment mit Anni in meinem Hotelzimmer.

Mein Blick geht nochmal zu meinem Bruder, der allerdings noch immer schläft und auch nicht den Anschein macht, als würde er in absehbarer Zeit aufwachen. Meine Hände hatte ich die ganze Zeit, seitdem wir gestartet sind, in meiner Jackentasche und erst jetzt nehme ich sie hervor und öffne sie, damit ich den Zettel öffnen kann, den Anni heute morgen auf den Tisch gelegt hatte. Sie hätte gehen können. Anni hätte am Morgen einfach aus meinem Zimmer verschwinden können und es wäre mir nicht aufgefallen. Ich hätte mich an die Nacht erinnert und auch an sie, da ich niemals ihr Auftreten vergessen könnte, besonders nicht ihre pinken Haare. Aber sie wäre einfach weg gewesen und hätte unsere Verbindung zueinander aufgelöst. Aber nein, sie blieb und schrieb mir diese kleine Notiz.

Ich würde mich freuen, wenn du dich nochmal melden würdest Chris. Ich möchte die Gespräche und die Zeit mit dir gerne wiederholen. Ruf mich an, Anni.

Danach folgt ihre Handynummer. Die leserlichste Schrift hat Anissa nicht gerade, aber vielleicht wollte sie heute morgen auch einfach schnell los. Sie meinte, sie müsse noch mit ihrer Band sprechen, bevor ihr Flug geht. Ich sollte nichts dazu sagen, meine eigene ist nicht gerade besser. Mit dem Daumen streiche ich immer wieder über ihre Notiz, über ihre Handynummer und bin zugleich unfähig ihr eine Nachricht zu schreiben oder einen Anruf zu tätigen. Vielleicht brauche ich nur ein paar Stunden oder einen Tag Abstand von der Sache, damit ich wieder auf sie zukommen kann. Damit wir da weitermachen können, wo wir aufgehört hatten, als wir das Event verlassen hatten. Vielleicht sind wir aber auch dazu bestimmt, dass es so endet.

Ich lasse mich in den Sitzt fallen und stecke den Zettel wieder in meine Tasche. Wie kann ich bitte so verzweifelt und zwiegespalten sein? Ich bin schon für mich selbst ein einziges Rätsel, was ich mir selbst nicht beantworten kann und dann will ich Anni damit eigentlich nicht auch noch belasten. Sie hatte es gestern angesprochen und Andreas heute morgen: Ihre Band ist von Skandalen geplagt. Anni wird andere Sorgen haben. Vielleicht habe ich es am Ende auch nur noch schlimmer gemacht, oder es ist alles wir zuvor. Weiß ich auch nicht, kann bei ihr nicht nachfragen, bin dazu nicht in der Lage.

Da ich sowieso noch Zeit habe, bevor wir ansatzweise wieder landen werden, nehme ich mein Handy und öffne Safari. Ich gebe in die Suchleiste „Public Therapy" ein und lese mir nur die Überschriften zu den Artikeln durch. Die Band scheint in den letzten Jahren schon immer wieder Opfer von Skandalen geworden zu sein, wobei man denken könnte, dass es darauf angelegt wird. Die Bilder zeigen die Mitglieder so oft in privaten und geschützten Umfeldern, dass ich mir gar nicht erschließen kann, wie und vom wen diese Fotos stammen können. Im Privathaus eines der Mitglieder, ich glaube, dass das der Drummer war. Wie sollte dort irgendjemand von der Presse hinkommen, ohne, dass jemand ihn oder sie kennt? Was wäre, wenn es jemand aus deren Umfeld ist? Aber wer bitte schön? Die vier kennen sich seit der Schulzeit und so, wie ich meinen Freunden vertraue, denke ich auch, dass keiner von denen irgendwas derartiges tun würde. Ich finde von jeden der Mitglieder einen Bericht, nur von Anni nicht. Aber sie hatte mir gesagt, dass sie vorsichtiger geworden ist. Außerdem...ich konnte erkennen, dass ihre Freunde ihr sehr wichtig sind, dass das ihre besten Freunde sind und niemals würde sie ihnen etwas antun.

Über Anissa, die Bassistin der Band, findet man fast gar nichts raus. Scheint so, als würde sie auch immer versuchen ihr Privatleben sehr privat zu halten. Das könnte der Unterschied zu ihren Kollegen sein, die ausgelassen feiern gehen, ihr Geld versaufen und spielen und sich jedes Wochenende mit hunderten anderen Menschen umgeben. Meine einzige Möglichkeit, dass ich noch ein bisschen was über sie rausfinde, ist ihr Instagram Account. Da ich selbst kein privates Konto habe, muss ich über das Profil von mir und meinem Bruder nach ihr suchen. Ich öffne Instagram und gebe in die Suchleiste das ein, was sie mir vorhin im Zimmer noch gesagt hatte.

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Ein kurzer Blick über mein Handy hinweg, damit ich sicherstellen kann, dass kein anderer gerade drauf schaut. Ich sage nicht, dass ihre Bilder dezent freizügig sein könnten, aber ich würde sagen, dass sie sich in sich und ihren Körper sehr wohl fühlen muss. Ich scrolle durch ihre Beiträge, die sie im Studio, zu Hause oder auf der Bühne zeigen. Immer mal wieder mit einem anderen Bass und manchmal mit einem Kollegen der Band. Bei älteren Bildern hat sie auch mal komplett lilane Haare, oder auch blau und grau. Aber scheinbar ist sie seit zwei Jahren pink und lila. Ich gehe auf kein Bild genauer rauf, da ich Angst habe, ich könnte eines der Bilder aus Versehen mit dem Account von mir und Andreas liken. Peinlich. Bevor ich mein Handy ausstelle, lösche ich ihr Konto aus der Suchleiste und gehe danach auch Spotify. Ich habe noch eine Stunde, will mich ausruhen und Musik hören. Gerade, als ich auf eine meiner Playlists klicken will, tippe ich nur wieder auf die Suchleiste und gebe den Namen des Albums ein. Inner Demons. Meine Kopfhörer setze ich noch auf, bevor ich das Album starte und mich rein höre. An Schlaf war dann auch nicht zu denken, weil ich mich in der Stunde durch das komplette Album höre...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now