Kapitel 92

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Sicht von Chris...

Es ist der letzte Abend gemeinsam mit Anni, bevor sie morgen früh wieder nach Berlin reisen muss. Bevor für uns beide wieder der Alltag beginnt. Meiner in der Halle oder den Arenen in Deutschland und ihrer wieder in dem Studio in Berlin, bevor im Juli ihre Tour durch Europa beginnt. Wenn wir die Entfernung zwischen Berlin und Enger überstehen, dann auch die zu den anderen Ländern.

Es ist wieder der Moment, dass ich vom Duschen komme, meine Sachen weglege und danach in die Küche gehe. Anni sitzt wieder mit Tweety auf dem Sofa. Allerdings sitzt er dieses Mal auf ihrer Schulter. Ich muss etwas lächeln über diesen Anblick. Allerdings kann ich auch zugleich sehen, dass Anni nicht wach ist, dass ihr der Abend noch nachhängt und dass sie für ihre Verhältnisse einfach zu wenig Schlaf bekommen hat. Letztes Mal habe ich nachgefragt, dieses Mal schenke ich uns beiden etwas zu trinken ein und gehe mit den beiden Gläsern ins Wohnzimmer. Dabei wendet sie ihren Blick zu mir hin und Tweety lässt sie daher auch wieder allein.
Chris: Ich dachte, dass du etwas trinken wolltest."
Ein schwaches Lächeln kommt ihr über die Lippen, bevor ihr Kopf gegen die Lehne fällt. Mich bringt es zum kurzen Lachen, bevor ich beide Gläser auf den Tisch stelle und mich neben Anni setze.
Anissa: Sehr lieb von dir, Chris. Ich habe die Nacht einfach zu wenig Schlaf abbekommen und bin schlicht erschöpft."
Chris: Ja, mir geht es auch so. Vielleicht sollten wir heute nicht wieder so spät uns schlafen legen. Dein Flug geht schon gegen Mittag."
Ihr zuvor ehrliches, wenn auch etwas schwaches, Lächeln, verändert sich in den Moment. Es wird immer trauriger, melancholischer, bis es gänzlich verschwunden ist.
Chris: Ich wollte dich daran nicht erinnern...ich wollte uns nicht daran erinnern..."

Anni schaut auf, als ich davon spreche, dass ich »uns« nicht daran erinnern will. Weil ein »uns« oder ein »wir« zwischen uns lange nicht zu erdenken war. Überschneidungen zweier Leben, die bisher nicht wirklich zusammen gehören sollten. Aber nach dem gestrigen Abend, nach dem, was gestern zwischen uns war und was wir einander endlich aussprechen konnten, kann keiner es dem anderen mehr absprechen oder sich irgendwie rausreden. Ich bin gerne bei ihr. Ich habe Anni sehr gerne in meiner Nähe. Ich will mit ihr mehr Zeit haben und mehr Momente teilen, die dann ein Teil von unserem Weg und unserem Leben werden könnten.

Auch wenn es sehr zögernd ist, Anni kommt mir näher und zuerst überlege ich noch, ob ich etwas machen sollte. Ob ich ihr Platz machen oder ausweichen müsste, aber als würde sie das mitbekommen, greift Anni nach meinem Arm und hält mich davon ab. Uns bringt es dazu, beieinander zu sitzen, fast zusammen dort zum Liegen zu kommen. Und es scheint, als wolle sie genau das. Einen letzten Moment zusammen. Einen letzten Moment der Nähe zueinander und ich lege noch einen Arm um sie, damit ich sie an mich ziehen kann.
Anissa: Ich werde das alles hier vermissen...ich werde dich wieder vermissen..."
Meine zuvor freie Hand geht vorsichtig über ihren Rücken. Dabei legt Anni ihren Kopf auf meiner Schulter ab, wird ruhiger, genießt diesen Moment hier.
Chris: Ich werde dich auch vermissen, Anni..."

Nach dem Satz bekomme ich von Anni erneut ein schwaches Lächeln zu sehen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich es zu sehen bekomme, da ich weiß, dass ich auch bereits ganz andere Dinge mit ihr getan habe. Auch wenn ich es alles nie wollte, ich finde es am schönsten, wenn ich ihr ehrliches und glückliches Lächeln zu sehen bekomme.
Anissa: Ihr habt eine Sommerpause, richtig?"
Chris: Genau. Wir sind im Mai und Juni noch unterwegs. Die genauen Termine habe ich nicht im Kopf."
Anissa: Und ich bin ab Juli wieder in Europa unterwegs...passt ja wieder perfekt..."
Vorsichtig löse ich meine Hand von ihr, damit ich ihren Kopf und somit ihren Blick zu mir richten kann.
Chris: Dann sagst du mir bitte, wann ihr in der Nähe seid. Ich muss nochmal eines eurer Konzerte zu sehen bekommen."

Anni lächelt darüber und das ist auch alles, was ich haben will. Sie noch glücklich sehen, solange sie hier bei mir ist. Zusammen sitzen wir wieder halbwegs ordentlich nebeneinander, als wir etwas aus unseren Gläsern trinken. Die gesamte Zeit kann ich Anni dabei allerdings ansehen, dass es sie sehr viel kostet, hier nicht einzuschlafen.
Anissa: Chris...darf ich dich etwas fragen, was...vielleicht etwas persönlich sein kann? Ich will dich damit gewiss nicht angreifen."
Ich zögere meine Antwort dieses Mal raus und tippe stumm an den Rand meines Glases. Wir haben über viele Themen mittlerweile schon gesprochen, aber noch nie hat sie so eine Frage eingeleitet.
Chris: Du kannst sie mir stellen...vielleicht antworte ich nur nicht..."
Anissa: Das ist okay. Mir ist nur aufgefallen, damals im Hotel in Berlin...du hast so seltsam darauf reagiert, als ich dein Aussehen, deinen Körper, bewertet habe."
Das Thema also, verstehe. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den Moment und weiß, wie ich darauf reagiert habe. Bevor ich ihr jetzt allerdings antworte, schaue ich runter in mein Glas.
Chris: Ich bekomme immer wieder Kommentare zu meinem Aussehen zu hören. Zum einen wie ich mich kleide, aber vor allem auch über meine generelle Statue. Es ist normal, dass ich mir sowas anhören muss, wie »an dir ist überhaupt nichts dran« oder »du bist viel zu dünn« oder auch »du musst dringend mehr essen«."
Anissa: Manche können nicht verstehen, dass Bodyshaming in beide Richtungen geht."

Zuerst wundere ich mich, warum Anni sich aufsetzt und ihr Glas auf den Tisch stellt. Aber als sie im nächsten Moment sich wieder vor mich setzt, zuerst mit ihrer Hand mein noch leicht nasses Haar zur Seite legt und danach ihre Hände an meine Schulter legt, stelle auch ich mein Glas zur Seite weg.
Anissa: Ich hoffe, dass du mir glaubst, wenn ich sage, dass ich finde, dass du ein auf deine Art und Weise perfekt bist. Ich habe damals nicht gelogen, als ich es zu dir gesagt hatte. Auch nicht einzig, weil du dort unter mir lagst, sondern weil ich es so empfinde. Verstanden?"
Zuerst muss ich nur sehr zufrieden anfangen zu lächeln. Als ich allerdings mein Lachen nicht mehr zurückhalten kann, lege ich meine Arme wieder um Anni und hole sie zu mir.
Chris: Danke...ich weiß auch, dass du das nicht einfach so sagst...danke, Anni."

Anni blieb danach so bei mir liegen und keiner von uns beiden hatte in der Zeit das Gefühl, als müsste es geändert werden. Eine lange Zeit haben wir noch über ein paar Dinge gesprochen, aber an einige kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Kann daran liegen, dass auch ich nicht wirklich wach geworden bin im Laufe des Tages. Aber am meisten hat man es Anni angesehen. Das wird auch der Grund sein, warum sie gegen elf Uhr bei mir eingeschlafen ist. Und dann saß ich dort, mit einer schlafenden Anni in meinen Armen und wusste zuerst nicht wirklich, was ich machen sollte. Recht schnell war mir aber klar, dass ich hier nicht bleiben kann. So vorsichtig wie möglich habe ich sie aufs Sofa gelegt und ich denke, dass sie davon nichts mitbekommen hat. Tweety ging glücklicherweise freiwillig und ohne Anstalten in seinen Käfig, den ich danach schließen und abdecken konnte. Bevor ich das Zimmer verlassen habe, hatte ich von der Lehne die Decke von Anni genommen und noch über sie gelegt. Sie hat morgen wieder einen anstrengenden Tag vor sich, sie soll sich hier noch etwas ausruhen und ein wenig Schlaf abbekommen. Nachdem ich auch im Badezimmer war und mich fürs Bett fertig gemacht habe, liege ich auch im Bett, habe mir zur Sicherheit noch einen Wecker gestellt und schlief dort in Ruhe ein.

Der Morgen begann auch ohne das Klingeln des Weckers. Ich wurde gegen halb zehn wach, blieb nicht länger liegen, sondern zog mich an und verließ im Anschluss das Zimmer. Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, aber an dem Morgen liegt Anni nicht mehr auf dem Sofa, sondern hat sich bereits in die Küche gesetzt und liest die Zeitung, die ich vor einigen Tagen am Morgen gelesen hatte.
Chris: Interessierst dich also für den Kreis Herford, was?"
Anni muss über meinen Kommentar lachen und wenn sie könnte, würde sie vermutlich die Zeitung nach mir werfen. Macht sie zum Glück nicht, sodass ich uns beiden einen Kaffee kochen kann. Ohne den werde ich nicht ganz wach werden.
Anissa: Etwas anderes war nicht hier. Zumindest stehen in der Zeitung wichtige Themen. In Berlin weißt du gar nicht, was du lesen sollst und dann steht da auch nur der größte Mist immer drin."
Chris: Wirst du meine kleine Heimat denn vermissen, wenn du wieder in deiner Großstadt angekommen bist?"
Über die Schulter schaue ich zu Anni zurück. Während sie einen Artikel noch zu Ende liest, fängt sie leicht an zu nicken.
Anissa: Schon etwas. Auch der Ort hier hat vieles, an das man sich schnell gewöhnen kann. Ich verstehe, warum du so gerne hier wohnst."
Chris: Du kannst gerne immer wieder zu Besuch vorbeikommen. Ich freue mich."
Anissa: Danke, Chris."

Den ersten Kaffee zusammen trinken, eine Kleinigkeit frühstücken und im Anschluss muss Anni ihre Sachen packen. Ich räume in der Zeit die Sachen aus dem Wohnzimmer weg, damit das wieder wie zuvor aussieht und als alles fertig ist, sie wieder angezogen, stehen wir uns in meinem Flur gegenüber.
Anissa: Nochmal danke, dass ich die Tage vorbeikommen durfte. Ich werde das alles hier sehr vermissen und dich natürlich am meisten."
Ich lache verhalten, habe meine Hände in meiner Hosentasche und schaue zu ihr hin.
Chris: Du bist hier immer willkommen."
Dieses Mal ist es Anni, die lächelt. Während ich ihr die Tür aufschließe, schaut sie zu mir und das macht sie auch, als ich meinen Blick wieder zu ihr richte. Sie zögert, überlegt, bis sie sich am Ende wohl doch traut.
Anissa: Chris...darf ich..."

Wie bei ihrem Konzert damals, deute ich ihr eine Umarmung an. Aber sehr schnell gibt sie mir zu verstehen, dass sie das gar nicht meint. Als sie danach nervös auf ihre Füße tritt, gehe ich einen Schritt näher zu ihr hin, bis wir uns gegenüberstehen und sie ihren Blick wieder zu mir richtet. Auch wenn ich zuerst meine Entscheidung überdenke, am Ende bringe ich mich dazu, dass ich sie zum Abschied sanft küsse. Und scheinbar ist es auch das, wonach Anni mich bitten wollte. Das zeigt mir ihr Lächeln, was ich dann sehe.
Anissa: Danke Chris...wir sehen uns bald wieder?"
Chris: Auf jeden Fall. Komm gut nach Hause Anni, ich werde dich vermissen...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now