Kapitel 86

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Die Zeit läuft mir davon. Ich muss die letzte Straße runterlaufen, damit ich die Bahn nach Münster nicht verpassen würde. Erst recht würde Anni dort sein und ich sitze dann noch hier in Bielefeld fest. Das wäre das schlimmste, was passieren könnte.

Ich laufe die letzte Treppe runter, der Zug steht bereits vor dem Bahnsteig und ich schaffe es noch gerade so hinein, bevor sich die Türen schließen und der Zug abfährt. Damit ich Anni finden kann, laufe ich den Wagen weiter runter, aber ich habe gar nicht gesehen, wo sie eingestiegen ist. Da sie nicht mehr am Bahngleis stand, ist sie hier, aber wo?
Christian.rnt: In welchem Wagon hast du einen Platz bekommen?
Anissa_PublicTherapy: Wagen drei. Kannst du schnell kommen, bitte?
Auf der Leuchtanzeige sehe ich, dass ich im Wagen fünf bin und somit wieder zwei nach vorne laufen muss. Während ich mich an den anderen Fahrgästen, Koffern und Taschen vorbeischiebe, komme ich zuerst in Wagen vier, wiederhole dort alles wieder und erreiche danach endlich den dritten Wagen. Wieder schaue ich mich um, finde sie aber nicht. Allerdings weiß ich, dass es hier einen etwas abgetrennten Bereich gibt, bevor man zum nächsten Wagen kommt und ich denke, dass sie dort sein wird. Gott sei Dank sitzt Anni dort, lenkt sich ab, bis ich neben ihr Platz nehme.
Chris: Alles gut bei dir?"
Beinahe automatisch greife ich nach ihrer Hand, die neben mir liegt und drücke die vorsichtig. Anni lenkt langsam ihren Blick zu mir, lächelt mich an und schaut danach zu unseren Händen runter. Dabei merke ich nur, dass sie ihre Finger mit meinen verschränkt.
Anissa: Jetzt wieder, danke."
Für einen kurzen Moment legt sie ihren Kopf auf meine Schulter. In den Momenten muss ich versuchen, dass ich nicht anfange zu lächeln.
Chris: Alles gut. Ich hätte mich mehr beeilen können."

Anni richtet ihren Blick wieder nach draußen. Alle paar Minuten hält der Zug in einem anderen Ort, einige steigen hinzu oder verlassen den Zug. Jedes Mal schaut Anni zu mir, damit sie sich versichern kann, dass wir noch richtig sind. Immer wieder nicke ich, sodass sie danach wieder raus schaut. In Berlin würde sie die Stationen vermutlich auswendig kennen, hier kennt sie vermutlich keiner der Stationen, an denen wir halten. Irgendwann halten wir für eine etwas längere Zeit. Anni lässt in den Moment meine Hand wieder los, weswegen ich auch zu ihr schaue.
Anissa: Stehen wir etwas länger?"
Chris: Im Hauptbahnhof Hamm, meist so um die zehn Minuten. Warum fragst du, Anni?"
Anissa: Ich konnte vorhin auf dem Bahnsteig meine Haare nicht zusammenbinden und die ganze Zeit laufen hier sonst Personen umher."
Kurz schaue ich mich um, sehe, dass keiner hier lang läuft oder entlang will und nicke daher. Zwar etwas zögernd, aber Anni setzt einen Moment die Cap ab und reicht sie mir. Ihr Haar holt sie aus ihrer Jacke, damit sie dieses zusammenbinden, wieder zum Teil in die Jacke stecken kann und setzt sich die Cap wieder auf, dieses Mal allerdings so, dass der Schirm nach hinten zeigt und somit fast ihr komplettes Haar verdeckt ist.
Anissa: Danke."
Chris: Dafür nicht. Wir sind bald da. Noch etwa 25 Minuten."

Meine Hände hatte ich in der Zeit auf meinen Beinen liegen, habe aufgepasst, dass keiner hier in ihrer Nähe ist. Es scheint, als würde Anni einen Moment nachdenken, aber danach greift sie wieder nach meiner rechten Hand, verschränkt diese wieder mit meiner und lässt die dann auf meinem Bein liegen. Meinen Blick wende ich nicht von Anni ab, während sie auf unsere Hände schaut und mir mit dem Daumen über den Handrücken streicht.
Anissa: Wolltest du noch eine Erklärung, wegen der Nachricht?"
Chris: Wenn du sie mir geben willst? Ich will dich dazu nicht zwingen."
Anissa: Dir vertraue ich, Chris."
Als sie ihren Blick hebt, zu mir schaut, sieht sie mein Lächeln und fängt einen kurzen Moment an zu lachen, bevor sie sich fängt und zu ihrem Satz ansetzt.
Anissa: Als das alles mit den Berichten angefangen hatte, wurde ich auch immer paranoider. Das war die Zeit, wo ich begonnen hatte, weniger auszugehen, mehr zu Hause zu bleiben und wenn, dann war John in meiner Nähe, der seitdem für mich arbeitet."

Ich weiß noch, wie es mich damals belastet hatte. Ich habe es so lange ausgehalten, bis ich schlussendlich Passwörter, Nummern und meine Adresse geändert habe. Und das war zu einer Zeit, wo wir noch nicht derartig bekannt waren.
Anissa: Irgendwann kamen auch private Inhalte von Marco an die Öffentlichkeit. Für die Arbeit und Instagram habe ich mein altes Handy. Die Nummer hat die Band, alte Bekannte, Kollegen. Aber mein zweites Handy mit der neuen Nummer, nutze ich für wichtige und private Dinge. Für meine Eltern, meine Schwestern...und eben dich..."
Anni wird etwas stiller, schaut wieder runter, drückt meine Hand etwas und seufzt fast nicht hörbar. Auch schließt sie kurz ihre Augen, bevor sie wieder zu mir schaut.
Chris: Ich habe gerade ein sehr starkes Bedürfnis dich in Arm zu nehmen und zu sagen, dass alles schon gut wird."
Ich bekomme bei ihr ein Schmunzeln zu sehen, danach wieder ein kurzes Zögern, bevor sie etwas näher an mich rückt und mich ruhig, aber mit einem unsicheren Lächeln, anschaut.
Anissa: Seitdem ich dich kenne, ist alles schon ein bisschen besser geworden, Chris. Danke für die ganzen, für dich vielleicht kleinen, Dinge, die ich durch dich wieder sehen und erleben durfte und konnte."

Ihren Kopf legt sie leicht zur Seite, was ich Anni nachmache. Wir kommen einander näher, bis wir uns beinahe küssen könnten. Und ich wäre vollkommen bereit dafür gewesen. Ich habe akzeptiert, dass das, was zwischen uns in den letzten Monaten entstanden ist, sich mit ihr immer richtig angefühlt hat. Ich wäre für den Moment hier mit ihr bereit.
Durchsage: Nächste Station ist, Münster Hauptbahnhof. Die Fahrt endet hier."
Wir beide setzen uns wieder richtig hin, dabei lässt Anni auch meine Hand los. Ich wollte sie zuerst noch festhalten, aber dachte, dass es für sie vielleicht falsch ist. Dieses Mal bin ich derjenige, der kurz seine Augen schließt, durchatmet und danach ruhig zu ihr schaut.
Chris: Ich denke, dass meine Freunde vor dem Bahnhof auf uns warten werden. So haben sie es zumindest meist gemacht."
Anissa: Du wirst mir schon zeigen, wo ich langlaufen sollte und ich hoffe, dass du mich unterwegs nicht verlieren wirst."

Ich lächle sie noch an, während die Bahn allmählich zum Stehen kommt. Die Fahrgäste steigen aus, darunter auch wir beide und durch den vollen Bahnhof lenke ich Anni und mich bis vor das Gebäude, wobei ich mich dort einen Moment nach meinen Freunden umschauen muss. Wie beim letzten Mal stehen Mike und Paul mit ihren Fahrrädern auf dem Vorplatz, warten und nehmen uns auch wahr, sodass wir zusammen zu ihnen hingehen...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now