Kapitel 57

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Erster Weihnachtsfeiertag. Zum Mittag ging es wie immer zu meinem Bruder, wo meine Schwester und meine Mutter auch anwesend waren. Mein Bruder war von uns beiden schon immer derjenige, der besser kochen konnte und daher kümmert er sich oft zu Weihnachten darum. Er macht es auch gerne, bietet sich jedes Jahr an und nimmt so unserer Mutter etwas ab. Ich bin froh, dass ich mich die Tage vor der Tour entspannen und zurücklehnen kann, da bei mir nichts ansteht.

An dem Tag bin ich der erste, der meint, dass er gehen muss. Meine Familie schaut mich misstrauisch und verwirrt an, da ich normal immer bleibe, bis unsere Mutter sich verabschiedet. Ich nehme sie oft mit. Aber heute muss ich um 14.30 Uhr einfach schon los. Ich verabschiede mich nur kurz, da wir uns morgen sowieso nochmal treffen werden und werde am Ende von meinem Bruder noch zur Tür gebracht. Während ich gerade meine Schuhe zubinde, lehnt er die Tür zum Wohnzimmer an, sodass ich gleich nervöser werde. Ich weiß sofort, dass er mich etwas fragen will, dass er etwas wissen muss.
Andreas: Ist bei dir alles in Ordnung? Du bist noch nie so früh gegangen."
Chris: Mir geht es gut Bruder, mach dir da keine Sorgen. Wirklich, alles ist gut."
Andreas: Was hast du denn noch vor?"
Chris: Muss ich denn unbedingt etwas vorhaben?"
Warum solltest du denn ansonsten gehen Christian? Er kann sich denken, dass du etwas anders machen willst und dass du deswegen gehen willst. Ich nehme nur noch meine Jacke und ziehe mir sie an. Ich muss hier weg.
Andreas: Was ist die Wahrheit?"
Es war klar. Gerade als ich nach der Tür greifen wollte, hält er mich mit dieser Frage vom Gehen ab. Jetzt werde ich noch einen Moment hier bleiben müssen.

Widerwillig drehe ich mich wieder zu meinem Bruder, sodass ich nicht mehr die Tür anstarre, sondern jetzt leicht auf dem Boden. Andreas lehnt sich gegen die Tür und schließt sie daher nun komplett. Jetzt wird man uns hier fast gar nicht mehr mitbekommen. Zuerst schaue ich noch weiter auf meine Schuhe, bevor ich den Mut zusammennehme und wieder zu ihn schaue.
Chris: Die Wahrheit ist, dass ich mich mit Anissa verabredet hatte, dass wir nochmal sprechen wollen. Um 15 Uhr über Facetime."
Andreas nickt schweigend, versucht seine Worte zu sammeln, nichts falsches zu sagen.
Andreas: Als sie im September morgens aus deinem Zimmer gekommen ist, kam es mir so vor, als würdest du sie nie wiedersehen wollen...aber du hattest damals schon ihre Nummer, oder?"
Ich kann nur nicken. Ja, sie hatte mir damals die Nummer gegeben und ist dann erst gegangen. Ich hatte zugestimmt, dass ich sie wiedersehen will.
Andreas: Du wolltest das alles gar nicht vergessen oder verdrängen, oder."
Ich verneine das nur stumm. Ich hatte es ihr in Berlin gesagt, ich bereue nichts, was wir miteinander getan haben, auch wenn es mir am Morgen noch so vorkam.
Andreas: Und was ist in Berlin passiert? Ihr wart einen Tag feiern im Berghain, was trinken, und? Da war mehr, oder? Deswegen bist du so seltsam, oder?"
Ich beiße nur leicht auf meine Lippe, sage nichts dazu, auch wenn es mehr aussagt als alles, was ich hätte sagen können.

Ich kann den Blick von Andreas nicht leiden, wenn er mich derartig anschaut. Nicht mal vorwurfsvoll oder genervt, verärgert oder ähnliches. Aber ich hasse es, wenn er mich ausfragt. Mache ich bei ihm ja auch nicht.
Andreas: Du bist so anders zu ihr."
Chris: Bin ich überhaupt nicht, okay?"
Andreas: Du denkst aber viel über sie nach, Chris. Während der Arbeit haben wir schon oft darüber gesprochen. Ihr schreibt auch viel miteinander."
Chris: Was anders bleibt uns doch nicht übrig, wenn wir in Kontakt bleiben wollen."
Andreas: Was für eine Art Kontakt denn, Bruder?"
Dieses Mal bekommt er meinen Stummen Blick zu sehen. Was möchte er denn von mir hören? Wir halten eben Kontakt zueinander.
Andreas: Was ist in Berlin passiert? Das gleiche wie in München, oder?"
Chris: Willst du es unbedingt hören?"
Zur Sicherheit schaue ich nochmal zur Tür, die aber fest geschlossen ist, da Andreas noch immer dagegen lehnt und somit jedes reinkommen in den Flur verhindert.
Chris: Ja...wir haben nochmal miteinander geschlafen, okay?"
Andreas: Hast du dich in sie verliebt?"
Ich schüttle den Kopf und stecke zeitgleich meine Hände in meine Hosentasche.
Chris: Habe ich nicht. Ich fühle bei ihr nichts. Sie ist eine gute Freundin, aber nicht mehr."
Andreas: Und warum dann das alles?"

Weil es mit ihr unkompliziert ist? Weil sie einfach da ist? Weil sie für mich da ist? Weil sie mir nicht das Gefühl gibt, als gäbe es irgendwelche Verpflichtungen bei uns? Zwischen uns ist nichts und gleichzeitig so viel, weiß ich ja selbst. Aber zwischen uns ist keine Spur von Liebe zu fühlen. Ich spüre es nicht in den Gesten, in den Nachrichten, in den Gesprächen, in unser gemeinsamen Zeit, in den Küssen, die sie mir gegeben hatte oder beim Sex. Wir gehören eigentlich nicht zusammen, sind grundverschieden. Aber irgendwie haben sich unsere Leben überschnitten. Und an der Stelle stehen wir beide jetzt. Zu wissen, dass das damals kein einmaliger Ausrutscher war, sondern dass wir einander in gewissen Weisen wollen, ein Verlangen haben, aber es ist nicht mehr. Wir haben Lust und Verlangen nach den Momenten, die wir Teilen, aber das muss nicht mit Liebe zusammenhängen. Tut es bei uns ja auch nicht. Keine Sucht, keine Sehnsucht nach den anderen, sonst wäre ich nicht hier und sie nicht da. Dann wäre alles anders und vor allem auch einfacher.

Ich zucke nach einer gefühlten Ewigkeit nur hektisch mit dem Schultern, damit er endlich eine Antwort auf seine Frage bekommen würde.
Andreas: Ich will dir keine Predigt über irgendwas halten..."
Chris: Fühlt sich aber danach an. Als würdest du mir wieder sagen, dass ich bei ihr aufpassen sollte, da sie ja von Skandalen geplagt sei und das alles hätte ich ja bereits gehabt und ich wüsste ja selbst, was dann passiert ist."
Anklagen mit dem Anwalt damit die Bilder aus dem Internet verschwinden. Wechsel meiner Telefon- und Handynummer, da sie die öffentlich gemacht hat und mir immer wieder schrieb oder mich anrief. Passwörter alle geändert, da sie einige Daten missbraucht hatte. Wiedersehen vor Gericht, da sie immerhin Daten von mir weitergegeben hatte. Und mein Umzug nach Enger, da meine Adresse auch öffentlich zugänglich war. Mein ganzes Leben stand Kopf, weil ich an die falsche Person geraten bin.
Andreas: Mach ihr keine Hoffnung."
Was? Das mir diese Frage durch den Kopf geht, sieht mein Bruder mir an meinem Gesichtsausdruck auch an, sodass er danach endlich die Flurtür hinter sich lässt und nochmal etwas auf mich zukommt.
Andreas: Es ist das eine, wenn es...einfach eure Beziehung zueinander ist. Dass ihr Freunde seid die irgendwelche gewissen Vorzüge haben, aber...pass auf, dass ihr einander nicht falsche Signale gebt."

Wie soll man einander falsche Signale geben, wenn keiner von uns beide wirklich weiß, welche Signale der andere von sich gibt...

Two Sides of Our LifeOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz