Kapitel 104

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Sicht von Anissa...

Er wird darüber hinwegkommen. Mit Sicherheit. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis bei ihm alles wieder so ist, wie zu dem Zeitpunkt, wo wir einander nicht kannten. Er muss mich nur vergessen. Er muss uns einfach aus seinen Kopf bekommen. Es ist das Beste für ihn, wenn wir keinen Kontakt mehr zueinander haben.

So still, wie in den letzten Tagen, war es noch nie in meiner Wohnung. Aber ich habe keine Musik oder einen Podcast im Hintergrund laufen. Ich will das nicht. Ich brauche die Stille gerade, wobei das wohl meine Gedanken übertönen könnte, die seit zwei Wochen um mich kreisen. Mein Leben geht weiter. Irgendwie. Ich gehe ins Studio und arbeite mit der Band zusammen. Ich sitzt dort zwischen ihnen und versuche so zu tun, als wäre alles normal. Dabei ist nichts mehr normal. Der Mann, der für alles verantwortlich ist, sitzt bei uns, ist immer in unserer Nähe und ich kann dagegen nichts unternehmen. Ich stehe hilflos am Rand und beobachte alles von außen, ohne, dass ich auf Besserung hoffen kann. Hätte ich es verhindern können, dann hätte ich Christian das auch nicht antun müssen. Dann hätte ich ihn nicht schmerzlich sagen müssen, dass wir uns nicht wiedersehen können. Dieser verdammte Satz treibt mir noch immer die Tränen in die Augen. Zu wissen, dass ich ihn niemals wieder hören, sehen oder sprechen werde. Unsere Wege trennen sich jetzt wieder. Es ist einzig das Beste für ihn, wenn er mich nicht wiedersieht.

Meine Decke wird leicht zur Seite gezerrt und kurz darauf merke ich, dass etwas auf meinen Beinen sitzt. Sylvester, wer denn auch sonst. In den letzten Tagen war ich immer viel zu viel zu Hause und vermutlich findet er das auch seltsam. Und sein beleidigter Blick unterstreicht meiner Vermutung dann auch noch.
Anissa: Schau mich nicht so an, Sylvester. Ich wünschte auch, dass alles wieder gut werden würde...aber das wird niemals wieder der Fall sein..."
Meinen Kopf lasse ich wieder aufs Kissen fallen und würde die Decke auf darüber ziehen, wenn Sylvester nicht komplett unpraktisch auf dieser sitzen würde. Nach und nach höre ich seine Pfoten auf der Decke, bis ich diese in meinem Haar spüren kann. Ich schaue auf und sehe, dass er neben meinem Kopf sitzt und eine Strähne zwischen seinen Vorderpfoten hält. Ich stöhne genervt, nehme ihn von dort weg und setze ihn auf den Boden wieder ab, was ihn auch nicht gefällt.
Anissa: Das Hilf mir auch nicht, Sylvester. Lass mich am besten einfach allein."
Bevor ich sehen kann, dass er wieder mein Schlafzimmer verlässt, lege ich mich hin. Ich hoffe auch, dass ich ihn vergessen kann mit der Zeit. Warum habe ich ihn damals auch mit in mein Bett genommen? Auch wenn hier nichts mehr von ihm ist, es erinnert mich alles an ihn. Alles hat noch eine Erinnerung von Chris an sich und ich liege mitten darin.

Auch wenn ich zwei Flure und ein Wohnzimmer vom Fahrstuhl entfernt bin, ich höre, dass dieser sich öffnet. Da aber einzig eine Person einen Schlüssel hat, weiß ich, wer das ist.
Anissa: Im Schlafzimmer, John!"
Für Notfälle oder falls ich meinen eigenen Schlüssel vergessen sollte. Typisch für mich. Die Motivation, dass ich aufstehe, ist aber auch nicht da. Vermutlich will er wissen, dass alles gut mit mir ist und außerdem müssen wir heute Abend nochmal ins Studio. Gott, ich bin gerade so emotional instabil, dass das keine gute Idee ist. Die Schritte stoppen im Türrahmen und ich spüre schon fast, dass ich angeschaut werde.
Anissa: Lass mich am besten in Ruhe. Vielleicht will Sylvester etwas raus...ich komme schon bald, damit wir los können."
Jetzt ziehe ich die Decke über meinen Kopf und will so am liebsten einfach liegenbleiben. Anstatt, dass er aber geht, kommt er zu mir und setzt sich an den Rand des Betts. Noch untypischer für ihn ist es dann, dass er mit seiner Hand über meinen Rücken geht, aber...das ist nicht die Hand von John.
Johanna: Was ist los mit dir, Nanni."
Anissa: Johanna!"

Schneller, als sie schauen kann, sitze ich aufrecht neben ihr, die Decke fällt automatisch von mir runter. Ich kann gar nicht begreifen, dass sie wirklich hier ist. Johanna war noch nie bei mir in Berlin. Und jetzt sitzt sie vor mir. Meine Sicht wird wieder undeutlicher und verschwommener, sodass ich meine Augen schließe und die erste Tränen spüre, die mein Gesicht runterlaufen und auf die Decke fallen.
Johanna: Nanni..."
Sie nimmt mich fest in Arm, drückt mich an sich und geht mit ihrer Hand wieder über meinen Rücken. So hatte sie es immer getan, als ich mich als Kind verletzt hatte oder wenn ich einen schlechten Tag hatte. Sie war immer einfach für mich da. Ich konnte mich immer auf sie verlassen und so auch in den Moment jetzt.
Johanna: Was ist passiert?"
Anissa: Ich habe den Kontakt zu Chris abgebrochen..."
Johanna: Warum das denn? Du schienst so glücklich an seiner Seite? Wegen den Berichten?"
Ich nicke nur leicht und löse mich aus ihrer Umarmung. Danach wische ich mit meinen Ärmle die letzten Tränen weg, atme durch und versuche etwas verständliches zu sagen.
Anissa: Unter anderem. Ich habe herausgefunden, wer an all dem Schuld ist..."
Auch Johanna ist daran interessiert zu wissen, wer es ist und zeigt mir das mit einer ausfallenden Geste.
Anissa: Es war alles James."

Johanna hat mich dazu gebracht, dass ich aufstehe und mit ins Wohnzimmer komme. Tatsächlich ist John mit hier, aber sichtlich hat sie ihn aus seinen freien Tag gezerrt. Kein Anzug oder schlichte Klamotten. Er trägt ausnahmsweise Mal einen Hoodie und Jogginghose. Als wir ihm gesagt hatten, dass es James war, wusste er das auch sofort.
Johanna: Und warum unternimmst du dagegen nichts?"
Anissa: Weil die Band mir nicht glauben würde."
Johanna: Was?! Das sind deine besten Freunde."
John: Und auch diejenigen, die denken, dass Anissa an all dem Schuld ist. Das alles passiert ja immer nur dann, wenn sie mit anwesend ist."
Meine Schwester versteht sofort, was wir beide meinen. John hatte sofort verstanden, in was für einer misslichen Lage ich mich befinde.
Johanna: Du leidest unter starkem Liebeskummer, Nanni."
Anissa: Danke...habe ich auch bereits mitbekommen. Ändert nichts an den Problemen. Ich kann den ganzen Mist einfach nicht beweisen."
Johanna: Aber dafür den Kontakt zu ihn abbrechen?"
Anissa: Christian leidet einfach nur darunter. Ich komme nicht davon los und lebe in der Gefahr, dass es immer wieder passieren kann. Dieser Gefahr kann ich ihn aber nicht aussetzen."
Johanna: Und du leidest darunter, ihn nicht mehr zu haben."

Mein Handy leuchtet auf und zeigt mir damit auch, dass wir beide bald los müssen. Dass ich wieder in Studio zu den anderen gehen muss. Daher stehe ich auf und gehe in mein Schlafzimmer, wo mir meine Schwester gleich folgt.
Johanna: Du kannst nicht einfach weitermachen, Anissa."
Ich vermisse es, wie er mich genannt hat. Anni. Ich wünschte, ich könnte das nochmal mit seiner Stimme hören. Es schmerzt, dass ich weiß, dass das aber niemals wieder passieren wird und das sieht man mir an.
Johanna: Du fängst schon wieder an zu weinen..."
Anissa: Weil ich ihn vermisse, sehr sogar. Aber ich weiß, dass ich das nicht ändern kann."
Johanna: Ist dir dieses Leben, was auf einer Lüge aufbaut, so viel mehr wert als dieser Mensch? Der dir gezeigt hat, was das Leben auch zu bieten hat?"
Ich werde zugleich in den Moment zurückgeworfen, wo ich mit ihm auf dem Fahrrad durch Münster gefahren bin. Etwas, was ich so noch nie hatte und Christian hat es mir gezeigt. Er hat mir gezeigt, wie mein Leben auch verlaufen könnte, würde ich mich nur für einen anderen Weg entscheiden. Schade nur, dass es nicht mein Weg sein soll.
Anissa: Ich kann das einfach nicht."
Johanna: Was genau, Anissa?"
Anissa: Mich entscheiden! Ich kann das einfach nicht...ich kann es nicht..."

Gehe ich die Gefahr ein, dass ich die Wahrheit sage und dann aus der Band geschmissen werde? Ich bin auch nur der Ersatz des Bassisten, der weggezogen ist. Ich bin ersetzbar. Und was mache ich dann? Ich habe nichts und vermutlich würde James es schaffen, dass über mich wieder ein schlechter Beitrag im Netz erscheint. Nein, das kann ich nicht. Und die Konsequenz davon ist, dass ich mich von Christian fernhalten muss. Die Entscheidung ist gefallen. Sie gefällt mir nicht, aber sie ist der einzige Weg, damit alles irgendwie weiterhin seinen Weg gehen kann.

Zuletzt, nachdem ich halbwegs ordentlich wieder aussehe, greife ich nach einer Jacke und da hängt wieder eine Erinnerung von ihm. Seine Jacke, die ich noch immer bei mir habe. Aber heute ziehe ich sie nicht an, ich kann es einfach nicht.
Johanna: Du entscheidest dich für den falschen Weg."
Anissa: Du hast von all dem keine Ahnung, Johanna. Du weißt es nicht, was es bedeutet, dermaßen in der Öffentlichkeit zu stehen."
Johanna: Kann sein..."
Dieser Halbsatz, der mir sagt, dass sie nicht fertig ist. Meine Jacke habe ich angezogen und schaue danach zu meiner Schwester, die mit verschränkten Armen vor mir stehen.
Johanna: Ich hatte aber immer gehofft, dass dich das alles nicht verändern wird, Anissa. Aber scheinbar hat es das. Sonst würde dir die Entscheidung leichter fallen."

Wenn es um ihre Arbeit und um ihr Leben gehen würde, könnte sie mich vielleicht etwas besser verstehen. Oder bin ich am Ende diejenige, die kein Plan von allem hat? Ich habe dafür keine Kapazitäten übrig. Ich muss jetzt schon versuchen, dass ich nicht in Tränen ausbreche, wenn ich gleich wieder im Studio bei James stehe...

Two Sides of Our LifeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora