Kapitel 59

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Sicht von Anissa...

Max läuft den Weg runter zum Platz, wo Johanna, Liana und ich früher immer gespielt hatten. Kein großartiger Platz, nicht viel, was man machen kann, aber Max ist gerne hier, da Jo schon mit ihm hier war, als er noch ganz klein war. Er kennt es nicht anders. Und ihn dort so glücklich und unbeschwert zu sehen, macht Jo glücklich. Als Mutter wird das wohl ein ganz normales Gefühl sein, wenn das Kind so zufrieden mit allem ist.

Wir beide sitzen hingegen etwas weiter von ihm weg auf einer niedrigen Mauer, schauen immer wieder zu Max hin und versuchen eine kurze Auszeit zu haben. Wir sind seit heute Morgen schon hier in Emden und Max wird einfach nicht müde oder will eine Pause machen. Vielleicht ist Jo das gewöhnt, aber ich definitiv nicht.
Johanna: Du hast ja glück, dass gerade Winter ist und dass du deswegen eine Mütze tragen kannst, Nanni."
Immerhin kann ich darunter meine pinken Haare verstecken und hier meine Ruhe haben. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass mich manche anschauen und überlegen, ob sie mich kennen könnten. Eventuell ist das auch einfach nur Einbildung. Hauptsache ich habe hier meine Ruhe mit meiner Schwester und meinem Neffen.
Anissa: Ist so aber auch am einfachsten. Keiner spricht einen an und man kann wie ein komplett normaler Mensch durch die Straßen gehen."
Johanna: Du wirst für immer einfach nur meine kleine Schwester bleiben, Nanni. Und für Max bist du einfach nur die verrückte Tante."
Ich muss anfangen zu lachen. Ich hatte oft schon mitbekommen, dass er mich als solche bezeichnet. Er ist noch zu jung und weiß nicht, warum ich in Berlin lebe, was mein Job ist, wer ich in der Öffentlichkeit bin. Für ihn bin ich nur Tante Nanni mit dem pinken Haar.
Anissa: Im Sommer muss ich mir was einfallen lassen, wenn ich meine Wohnung verlassen will. Vielleicht muss ich mir doch mal Caps anschaffen."

Eigentlich fand ich es immer seltsam, wenn Personen des öffentlichen Lebens draußen mit Cap und Sonnenbrille rumlaufen, damit man sie nicht erkennen würde. Und heute denke ich selbst darüber nach. Wenn ich aber auf anderen Wegen nicht mehr meine Wohnung verlassen würde? Ich will nicht jedes Mala auf John angewiesen sein, wenn ich einfach raus will. Wenn ich einfach ein normales Leben führen will. Nur durch Chris bin ich darauf gekommen, weil sein Leben so normal erscheint, obwohl es das wohl auch nicht ist. Er musste auch Erfahrungen sammeln, aber genießt alles vollkommen und zeigt mir dabei, wie vereinsamt ich lebe.

Meinen Blick lasse ich zu Jo wandern, die gerade wieder zu ihren Sohn schaut und lächelt. Alles, was sie immer erreichen wollte. Vollkommen glücklich und angekommen. Wir sind zwar Schwestern, führen aber ein grundverschiedenes Leben.
Anissa: Du siehst so glücklich aus, wenn du Max anschaust."
Johanna: Er macht mich auch einfach glücklich. Seine Leichtigkeit, seine Kindlichkeit, seine Freude am Leben. Das sieht man, wenn er lacht und lächelt."
Ich nicke und muss danach auch wieder zu Max schauen. Noch geht er in die Grundschule, hat alle Freiheiten und ich weiß, dass meine Schwester eine großartige Mutter ist und ihm das beste Leben geben wird, was er bekommen kann. Sie hatte es mir auch immer gezeigt als große Schwester, als Vorbild als ich jünger und kleiner war.
Johanna: Und wer ist es bei dir?"
Auch wenn ich mitbekomme, dass ihr Blick auf mir liegt, ich wage es nicht meinen zu ihr zu richten. Was soll bei mir bitte sein? Nichts ist. Niemand ist. Alles ist gut und vollkommen normal bei mir. Es gibt rein gar nichts, was sein sollte.
Anissa: Was sollte denn sein? Was meinst du damit Jo?"
Ich schaue sie noch immer nicht an und Jo weiß, dass ich das mache, damit ich ablenken kann. Von mir, vom Gespräch und vom Thema. So war ich schon immer.
Johanna: Wer macht dich gerade so glücklich? Ich sehe es immer, wenn du auf dein Handy schaust und eine bestimmte Nachricht angezeigt werden muss. Es ist nicht immer, nur bei speziellen Nachrichten. Also: Wer macht meine kleine Schwester gerade so glücklich?"

Gleich am ersten Tag hatte sie es doch gesagt. Chris hatte mir geschrieben, wir haben ein paar Nachrichten gewechselt und sie hat mich gleich gefragt, warum ich lächle, mit wem ich schreiben würde. War ich wirklich so durchschaubar?
Anissa: Ich habe da jemanden kennengelernt."
Johanna: Man lernt immer wieder jemanden kennen."
Anissa: Aber nicht so jemanden. Ich war im September doch bei dem Event, wo wir den Preis gewonnen hatten und da hatte er mich auf der After-Show-Party angesprochen. Wir haben miteinander gesprochen, was getrunken, einen schönen Abend zusammen gehabt."
Johanna: Und ihr seid in Kontakt geblieben?"
Anissa: Ja, wir schreiben immer wieder und Anfang Dezember war er auch für ein paar Tage bei mir. Auch hat er eines meiner Konzerte besucht und im Januar gehe ich zu seiner Show hin. Er wohnt eben in NRW und das macht es nicht leicht."
Johanna nickt und schaut zu Max. Er ist noch immer mit sich beschäftigt, beachtet uns beide kaum, schaut nur zu uns, um zu wissen, dass wir nicht weg sind.
Johanna: Und was ist der Rest der Wahrheit? Du verschweigst mir etwas, Anissa."
Und da nennt sie mich bei kompletten Namen. Das heißt nie etwas Gutes.

An die Mauer oben grenzt die Wiese und darauf lasse ich mich fallen, schaue in den Himmel und gebe einen genervten Kommentar von mir ab.
Anissa: Dass wir beide ein einzelnes Rätsel sind? Ja ich...habe dir nicht alles gesagt. Ich bin bei dem Event damals mit zu ihm gegangen, er hatte mich noch mit auf sein Zimmer genommen."
Johanna: Ihr beide hattet..."
Anissa: Ja! Und als er vor drei Wochen bei mir war, da sind wir beide auch wieder zusammen im Bett gelandet. Gott, mit ihm ist das alles so kompliziert, aber nicht, weil er kompliziert ist. Keiner von uns beiden bereut irgendwas, was wir miteinander getrieben haben. Ich genieße die Zeit mit ihm sehr. Ich rede gerne mit ihm. Ich verbringe gerne Zeit mit ihm. Ich schreibe gerne mit ihm. Ich telefoniere gerne mit ihm. Ich habe gerne Sex mit ihm. Ich lache gerne mit ihm. Ich vergesse alles mit ihm. Er lenkt mich einfach ab."
Johanna: Hast du dich in ihn verliebet?"
Anissa: Habe ich nicht. Ich fühle bei ihm nichts. Er ist eine gute Freund, aber nicht mehr."
Johanna: Und warum das Ganze dann?"

Weil mit ihm alles so einfach ist. Unkompliziert. Schön. Leicht. Chris gibt mir nicht das Gefühl, dass er irgendeine Verpflichtung ist, dass es Bedingungen zwischen uns gibt. Alles, was zwischen uns passiert ist, passiert immer, weil wir es wollten. Aber da ist keine Spur von Liebe in den Handlungen. Lust und Verlangen haben doch nichts damit zu tun, dass man eine Sucht oder Sehnsucht nach den anderen aufbaut. Wir existieren als Freunde und nur im privaten, in einem Zimmer, Hotelzimmer oder meine Wohnung, sind wir einander so nahe, dass die Folge logisch ist, dass wir einander wollen. Wenn doch nur irgendwas von unseren Handlungen logisch wäre.

Johanna greift nach meiner Hand und zieht mich wieder auf, sodass ich ordentlich neben ihr sitze. Dabei richte ich nochmal meine Mütze und versuche ihre Blicke zu meiden.
Johanna: Ich sage dir das jetzt einzig als große Schwester. Kein Kommentar. Keine Diskussion. Nichts. Einfach nur ein Rat von deiner Schwester, die ein bisschen was im Leben durchgemacht hat, okay Anissa?"
Ich nicke schweigend, habe sowieso keine andere Wahl. So gut kenne ich sie bereits.
Johanna: Ihr wollt einander. Auf eine Art und Weise, die ihr beide vielleicht noch nicht verstehen könnt. Und ich glaube, dass dein "Ich fühle bei ihm nichts" nur eine Ausrede für dich selbst ist. Damit es nicht kompliziert werden würde, aber dadurch wird es das erst. Ihr gebt einander sehr verwirrende Signale, die keiner wirklich versteht. Daher wird es nichts klares sein. Seid ihr Freunde? Liebt ihr einander? Oder wollt ihr einfach eine Freundschaft mit gewissen Vorzügen? Ihr macht es euch schwerer als es sein müsste."
Als würde ich Chris fragen, was das ist? Können wir beide doch nicht wissen. Woher soll ich denn auch wissen, was ich ihm für Signale gebe, wenn ich seine nicht verstehen kann?

Ich lege meine Hände wieder gefaltet auf meine Beine, schaue darauf hinab. Vielleicht klärt sich das alles irgendwann, oder wir beide sind dazu bestimmt, dass es ein solches durcheinander bleibt. Auf gewisse Weise funktionieren wir beide doch.
Johanna: Wer ist der mysteriöse Mann denn? Du hattest nie gesagt, wie er heißt und was er macht. Wenn er ebenfalls beim Event war, ist er dann auch Musiker?"
Anissa: Er war nur zu Gast da und hat mit Musik nicht so viel zu tun. Also in gewisser Weise schon, aber..."
Ich schaue auf und bekomme das Lachen von Jo mit. Ich rede wieder drum herum und das bringt auch mich zum Lachen. Einfach auf dem Punkt sprechen, Anissa.
Anissa: Er ist Illusionist mit seinem älteren Bruder. Die Ehrlich Brothers. Und ich habe irgendwie Chris kennengelernt."
Johanna: DEN hast du kennengelernt? Das ist der Mann, der dich gerade derartig glücklich macht. Max ist gerade komplett in der Phase, dass er die beiden mega interessant findet. Wir waren im Frühjahr bei einer Show, du wirst sie lieben."
Anissa: Immerhin weiß Max, was er macht. Er scheint ja keine Ahnung zu haben, wer seine Tante ist und was sie macht."
Johanna: Dich sieht er auch immer wieder und kennt dich schon zu lange. Du bist zu normal für ihn."
Anissa: Dass ich mal als "zu normal" bezeichnet werde."

Johanna und ich müssen lachen, wobei sie merkt, dass mir die Thematik noch leicht nachhängt und noch immer durch mein Kopf geht. Seit zu langer Zeit kreist Chris dort schon umher und ich glaube, dass ich ihn so schnell auch nicht loswerden kann.
Johanna: Du brauchst etwas Ablenkung. Zum Markt gehen und schauen, ob sie frische Krabben gefangen haben?"
Anissa: Das klingt mehr als perfekt. Eine der wenige Sachen, die ich in Berlin vermisse...

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