Kapitel 69

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Sicht von Anissa...

Die Decke, die noch halbwegs über meinem Körper liegt, raschelt, als ich mich versuche gemütlicher hinzulegen. Im Zimmer ist es noch nicht wirklich hell, also wird es noch früh am Morgen sein. Dass ich noch müde bin, erklärt sich daher auch schnell.

Ich lege mich auf die Seite, die Decke liegt dabei knapp über meiner Taille, aber kalt ist mir nicht. Dabei liege ich hier nackt im Bett. Ich liege hier in seinem Bett. In dem Hotelzimmer von Chris. Aber ich weiß auch gleich, dass er nicht mehr mit hier liegt. Das passiert nicht. Am Morgen danach liegen wir nie zusammen noch im Bett. Zögernd öffne ich langsam meine Augen und schaue im Raum umher. Es ist dunkle, viel erkenne ich nicht und dennoch sehe ich seine Silhouette vor dem Fenster. Bereits komplett wieder angezogen, etwas verträumt oder abwesend mit den Gedanken steht er dort und schaut runter auf die Hauptstraße, die vor dem Hotel liegt. Zuerst überlege ich, ob ich einfach hier liegen bleibe und ihn eine Zeit noch beobachten könnte, aber ich setze mich dann doch langsam auf, was auch seine Aufmerksamkeit zu mir zieht. Chris dreht sich in meine Richtung und schaut mich wieder an. In seinem Blick lag noch nie etwas abwertendes zu dem, was er vor sich sieht. Ich habe keine Hemmungen mehr, vor ihm zu sitzen, nicht bekleidet zu sein und nur halb verdeckt. Dieser Mann kennt mich mittlerweile besser als irgendjemand anderes.

Meine Hände lege ich wieder zusammengefaltet vor mir auf meine Beine, wo die Decke noch drüber liegt. Wie angewurzelt steht Chris starr vor dem Fenster, wendet seinen Blick nicht von mir ab und wirkt mit seiner Körperhaltung gerade mehr als abweisend mir gegenüber. Und ich sitze kleinlaut und verunsichert auf seinem Bett.
Anissa: Morgen..."
Chris: Morgen."
Ich hatte gehofft, dass ich von ihn ein leichtes Lächeln zu sehen bekomme, aber nein. Sein kurzes Wort kommt emotionslos über seine Lippen, die mir gestern Abend noch etwas komplett anderes vermittelt hatten. Schweigen. Stille. Kein Wort. Nichts. Ich will zu einem Satz ansetzen, da bemerke ich, dass er auf seinen Füßen nervös hin und her tritt.
Chris: Ich muss bald los, mein Zug fährt bald ab. Du musst gehen."
Ich wusste, dass wir nur für ein paar Stunden existieren werden. Aber einen solch kalten und emotionslosen Rausschmiss habe ich von ihn dann auch nicht erwartet. Was habe ich aber eigentlich erwartet? Eine Aussprache? Ein paar Worte? Eine Erklärung? Vielleicht habe ich irgendwas erwartet, was eine Lösung darstellt. Und keine Lösung oder Erklärung, die gerade derartig verletzend aus seinem Mund kommt.
Anissa: Klar. Verstehe schon."
Als ich die Decke von mir nehme, bekomme ich mit, dass er sich wieder zum Fenster umdreht. Okay, ich bin keinen Blick mehr wert. Danke Chris. Danke für deine stumme Antwort auf all die Fragen in meinem Kopf.

Meine Klamotten habe ich schnell wieder angezogen, da ich nicht länger in seiner Anwesenheit sein möchte als gerade nötig und John konnte ich auch schnell eine Nachricht hinterlassen, dass er mich abholen muss. Zuletzt wollte ich nach der Jacke greifen, aber weiß, dass das seine ist, dass ich darauf also keinerlei Ansprüche habe. Als ich meine Schuhe anziehe und ihm somit auch zu verstehen gebe, dass ich gleich gehen werde, steht er einen Moment später hinter mir mit seiner Jacke, die die letzten Wochen bei mir war und die ich öfters auch getragen hatte.
Chris: Es ist draußen zu kalt."
Anissa: Danke."
Anderweitige Fürsorge wäre mir deutlich lieber gewesen, aber ich nehme seine Jacke dennoch an. Danach hält mich nichts mehr in diesem Zimmer und das weiß er auch zu gut. Er geht vor zur Zimmertür und öffnet mir diese, als ich darauf zugehe. Im Türrahmen belieb ich stehen und schaue ein letztes Mal zu ihm hin.
Anissa: Komm gut nach Hause."
Chris: Danke..."
Er deutet mir eine Umarmung an, aber als ich zögere, lässt er das auch wieder. Auch wenn er es nicht verdient hat, ich lege vorsichtig eine Hand an seinen Kopf und gebe Chris noch einen letztes Kuss auf die Wange, bevor ich den Flur runterlaufe. Gerade, als er die Tür zu seinem Zimmer wieder hinter sich schließt, wische ich mir mit dem Ärmel seiner Jacke die Tränen von den Augen weg.

Vor dem Hotel wartet John bereits mit dem Auto und schaut, dass keiner hier ist. Zu früh für irgendjemanden, daher lehnt er gegen dem Auto, bis er mich wahrnimmt.
John: Alles okay bei dir, Anissa?"
Anissa: Klar...ich will einfach nur nach Hause, John. Bitte."
John hält mir die Tür des Autos auf, sodass ich schnell einsteigen kann. Kurz darauf sitzt auch er wieder hinterm Steuer und lenkt uns durch die Straßen von Berlin. Ich sitze schweigend auf dem Beifahrersitzt und schaue raus. Er schaut auf die Straßen, aber hat mehr als deutlich mitbekommen, wie ich aus dem Hotel gekommen bin.
John: Du weißt, dass ich zwar eigentlich nur ein Angestellter von dir bin, aber wenn du jemanden zum Reden brauchst, der nicht in deinem näheren Umfeld ist, dann werde ich dir zuhören, Anissa."
Ich bin froh, dass ich damals an John geraten bin. Dass mir die Agentur damals John vermittelt hatte. Einen besseren Leibwächter hätte ich nicht bekommen können.
Anissa: Wie ist das mit deinem Mann? Wie...habt ihr euch kennengelernt?"
John: Auf einer Party von meiner damaligen besten Freundin. Es war lange nicht ersichtlich, dass er schwul ist. Wir wurden Freunde, trafen uns immer wieder, haben uns auch sexuell ausgelebt, aber jeder Morgen danach war nur seltsam und fremd."
Anissa: Und...wie seid ihr da rausgekommen?"
John: Als er mir gestanden hatte, dass er sich verliebt hat."

Toll. Das muss ich von ihn wohl kaum erwarten. Ich muss von ihm nichts erwarten, was nicht die Wahrheit ist, oder wofür er offensichtlich nicht bereit ist.
John: Er bedeutet dir viel, oder?"
Anissa: Sehr viel...aber ich habe das Gefühl, dass das nicht gegenseitig ist. Heute morgen hat er mich einfach gehen lassen."
John: Vielleicht hast du dich selbst aber auch gehen lassen."
Zuerst bleibt mein Blick nach draußen gerichtet, bevor ich über diesen Satz nachdenke und schlicht verwirrt bin, daher zu John hinschaue.
John: Du siehst es aus deiner Perspektive, was auch klar ist. Du erwartest, dass er dir Klarheit gibt. Aber er kann sie dir nicht geben, wenn du ihm diese nicht gibst."
Anissa: Was soll ich aber machen?
John: Wie wäre es mit loslassen?"
Anissa: Was? Ich würde ohne diesen Mann nicht mehr leben wollen, John."
John: Nicht loslasse, im Sinne von gehen lassen. Lass deine Vorstellung los, dass zwischen euch nichts ist, dass er nur ein Freund ist und bleiben soll. Ihr steht einander im Weg mit Vorstellungen, die ihr nicht erfüllen wollt. Lass los, dass zwischen euch nichts passieren darf und lass dich auf das ein, was zwischen euch passieren soll."

Der letzte Abend und die letzte Nacht hat mir nur mehr Verwirrung gebracht, die ich dachte, besiegen zu können. Klarheit. Wahrheit. Eingeständnisse. Das ist das, was wir einander wohl schuldig sind. Nicht die kühle Abweisung, die ich heute morgen von ihm zu spüren bekam, die ich nicht als seine ehrliche Reaktion wahrhaben will. Loslassen von meinen Gedanken und Erwartungen. Wenn sie aber alles sind, was mich immer geschützt hat? Vor falschen Entscheidungen, falschen Menschen, falschen Wegen? Wenn sie mich aber jetzt von dem Richtigen abhalten und mein Leben, mein Glück und meine Zukunft behindern, muss ich loslassen und an etwas Neues wagen...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now