Kapitel 72

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Am Nachmittag versuchte ich etwas Schlaf nachzuholen. Das Handy hatte ich die gesamte Zeit bei mir an der Seite, bin zu Beginn durch jede noch so kleine Nachricht wieder aufgewacht, bis ich einfach eingeschlafen bin. Durch meinen Klingelton wäre ich wieder aufgewacht, aber bis zum Abend bleibt es still.

Um 19 Uhr, als ich mehr oder weniger wieder wach war, musste ich mir noch etwas zum Abendessen zubereiten. Natürlich habe ich nach einem Tourblock nicht das meiste mehr zu Haus, aber mit dem, was ich noch finden konnte, versuche ich irgendwas hinzubekommen. Während ich dort Wasser aufgesetzt habe, konnte ich noch die Wäsche aus der Maschine holen und aufhängen, damit die auch trocknen kann am Abend. Tweety sitzt in dieser Zeit wieder auf meiner Schulter, da er von selbst nicht in die Küche mitkommt. Während ich allerdings im Badezimmer, Schlafzimmer oder Wohnzimmer stehe, habe ich ihn bei mir sitzen.
Chris: Hast du ein paar schlaue Worte für mich, Tweety?"

Beinahe automatisch muss ich wieder an Sylvester denken, der Gegenspieler zu meinem kleinen gelben Vogel hier. Und dann muss ich daran denken, warum sie sich nicht melden kann. Was ist, wenn Sylvester wirklich auf ihr liegt, sie wird vermutlich auch müde vom gestrigen Abend sein und ihr Kater ist schon sehr Menschenbezogen. Oder sie will sich gerade einfach nicht melden, Christian. Vielleicht will sie dich gerade nicht sprechen, will gerade etwas Abstand haben und will ihre Ruhe haben.
Chris: Warum muss das alles immer so kompliziert sein und warum muss ich mich in diesen Dingen und Themen immer so inkompetent anstellen?"
Tweety schaut mich von meiner Schulter aus an, wobei sein verwirrter und genervter Blick mich zum Lachen bringt.

Mein Weg führt mich wieder in die Küche und so lässt mich Tweety auch wieder in Ruhe. Das Wasser kocht, die Nudeln sind im Wasser und danach lehne ich gegen der Küchenzeile und bin am Handy. Keine wichtige Nachricht, Mail oder ansatzweise ein Anruf. Ich öffne Instagram mit meinem privaten Konto und scrolle durch die Beiträge meiner Freunde. Danach gehe ich wieder auf das Profil von mir und meinem Bruder, wobei ich auch die Benachrichtigungen einmal durchgehe.

Anissa_PublicTherapy hat dich in seiner/ihrer Story erwähnt

Die Story ist bereits ein paar Stunden alt, ist von gestern Abend und kurz davor, dass sie von Instagram wieder gelöscht werden würde. Ich hatte nicht ansatzweise mitbekommen, dass Anissa diese aufgenommen hatte. Auch wenn es der Account von Andreas und mir ist, ich klicke darauf und weiß sofort, wann sie entstanden sein muss. Ich war in meiner Kabine, wurde für die Show fertig gemacht und Anni war bei der Band. Silvana spielt sich wie jeden Abend etwas ein, wobei unsere Anni auf eine der Kisten sitzt und diese wie eine Cajon spielt. Mirijam und Alina müssten sich einsingen, machen sie in dem Moment auch und dazu hat sich Anissa gesetzt, die dabei entspannt auf der Armlehne des Sofas sitzt. Selten war ich bei deren Proben dabei oder habe mitbekommen, wie sie sich einspielen, beziehungsweise einsingen. Und Anissa habe ich außerhalb von dem Song My Lover noch nie singen hören. Sie selbst hatte sich niemals als Sängerin betitelt und meinte, dass dort nicht ihre Stärke liegen würde. Allerdings habe ich das Gefühl, als ich sie dort neben Alina und Mirijam sehe und höre, dass das nur ihre Einbildung ist und dass sie sich wieder einzig selbst schlecht redet.

»A-B-C-D-E, F-U! And your mom and your sister and your job. And your broke-ass car and that shit you call art. Fuck you and your friends that I'll never see again. Everybody but your dog, you can all fuck off!«

Die Story beendet sich danach automatisch, da sie mehr dort nicht hochgeladen hat. Die Mädels aus der Band wurden ebenfalls noch verlinkt, natürlich wir als Künstler und die Kommentare unter dem Beitrag von gestern lassen sich dann auch zum Teil wieder erklären. Das Handy lege ich wieder bei Seite, weil ich ansonsten gleich ein Problem mit meinem Essen bekommen werde, was noch immer vor sich auf dem Herd kocht. Ich warte die Zeit, schaue auf den Timer, der noch nicht abgelaufen ist und überlege, was ich bitte am Abend machen will, da ich meine Gedanken nicht ordnen, geschweige denn leiser stellen kann. Noch immer muss ich über gestern Abend nachdenken. Über den heutigen Morgen. Meine mehr als dumme Aktion und dass sie noch immer keine Reaktion gezeigt hat. Allerdings hat sie auch ein Leben, muss ins Studio oder will ebenfalls den gestrigen Abend verarbeiten oder vergessen...vielleicht auch einfach mich vergessen...

Mein Handy zieht meine Aufmerksamkeit wieder zu sich, als der schwarze Bildschirm aufleuchtet. Ein Anruf über FaceTime von Anni. Ich hatte gehofft, dass sie schreibt oder mich anruft, aber sie gleich wiedersehen, macht es nur noch schwerer. Bevor ich den Anruf annehme, atme ich nochmal durch, schlucke nochmal schwer, aber nehme den schlussendlich, auch wenn etwas nervös, an. Kurz darauf sehe ich sie auch wieder. Anni, in Berlin, in ihrer Wohnung auf dem Sofa.
Anissa: Hi, Chris."
Chris: Hey...Anni..."

Auch wenn ich dort wieder ihr Lächeln sehe, mir fällt es mehr als schwer die Fassung zu bewahren und ruhig zu ihr zu reden. Meinen Kopf stütze ich in meine Hände, wobei ich meine Arme auf die Küchenzeile gelegt hatte.
Anissa: Alles okay bei dir?"
Chris: Nein, nichts ist okay. Es tut mir so verdammt leid, wie ich dich heute morgen behandelt habe. Ich wollte dich nicht so gefühllos rausschmeißen, als hätte ich dich ausgenutzt und dann weggeschickt. Gott, warum bin ich auch immer so ein Vollidiot!? Warum stell ich mich so dämlich an in diesen Themen!?"
Ich hocke mich auf dem Boden, bin nicht mehr im Bild vom Handy zu sehen und fasse mir wieder an den Kopf.
Chris: Ich bin so ein Idiot! Es tut mir so verdammt leid Anissa...ich...wollte nicht...ich wollte dich nicht verletzen...ich wollte dir sowas nicht antun..."
Anissa: Du kannst schon manchmal eine ganz schöne Dramaqueen sein, oder Chris?"
Meine Hände fallen auf dem Boden, da ich etwas lachen muss. An der Küchenzeile ziehe ich mich auf die Beine, sodass ich Anni auch wieder sehen kann. Zwar sehe ich noch immer sehr fertig und vielleicht etwas verweint aus, aber bei ihr ist mir das egal geworden.
Chris: Vielleicht ein bisschen..."

Ich wische mir mit den Händen noch ein letztes Mal über meine Augen, stelle mich wieder komplett aufrecht hin, atme noch ein letztes Mal tief durch. Anni sitzt in der ganzen Zeit ruhig auf ihrem Sofa, schaut mich ruhig an und ich bin froh, dass ich in ihren Blicken und Handlungen keine Wut oder Hass mir gegenüber sehen kann. Aber natürlich hat auch sie das Recht mir zu sagen, was ich falsch gemacht habe. Zuerst scheint es so, als zögert sie ein wenig, zumindest bis sie ihre Hände zusammenfaltet und wie jedes Mal vor sich auf ihre Beine legt.
Anissa: Ich fand es echt scheiße, wie du mich heute Morgen behandelt hast. So möchte ich von keinem Behandelt werden. Es hat mich sehr verletzt, was du getan hast. Ich verstehe, wenn du keine Zeit hast oder Raum für dich brauchst, aber dann kommunizier das so auch mit mir und schmeiß mich nicht einfach raus."
Ich nicke still, unterbreche sie nicht, will ihr aber das Gefühl geben, dass ich zuhöre. Denn das mache ich. Auch wende ich meinen Blick nicht von ihr ab, als sie wieder ganz leicht anfängt verlegen zu lächeln.
Anissa: Aber ich bin dir dankbar, dass ich das komplett ehrlich zu dir sagen kann, ohne, dass du eingeschnappt wirst."
Chris: Du sagst einzig die Wahrheit. Ich war ja mit dabei."

Dieses Mal muss sie zuerst etwas lachen und das wieder ehrlich von ihr zu hören, entspannt mich etwas mehr. Meinen Kopf lege ich etwas zur Seite und lasse meinen Blick eine lange Zeit auf Anni liegen, der das offensichtlich überhaupt nichts mehr ausmacht.
Chris: Es tut mir wirklich leid, was ich getan habe."
Anissa: Ich weiß das und glaube es dir auch vollkommen, Chris. Ich fand deinen Anruf vorhin wirklich süß."
Ich muss verlegen lachen und schaue runter auf dem Boden, wo ich aus Nervosität wieder mit einen Fuß auf dem anderen trete.
Chris: Ich hasse es so zu telefonieren. Auch in der Firma macht das immer mein Bruder Andreas. Ich versuche mich immer darum zu drücken."
Anissa: War das vorhin die Wahrheit, Chris? Das, was du gesagt hattest?"
Ich habe unfassbar viel in dieser Nachricht gesagt, damit ich mich irgendwie erklären kann, aber ich denke zu wissen, was sie genau meint. Sie meint das, was ich zuvor nicht ausgesprochen hatte und was keiner von uns bisher gesagt hatte.
Chris: Ich...will und kann wirklich nicht ohne dich leben, Anni."
Anni muss lächeln. Das ist vermutlich auch das, was ich heute morgen hätte sagen sollen. Das, was sie heute morgen von mir hören wollte.
Chris: Ich...durch dich fange ich wieder an zu vertrauen und..."
Anissa: Ich werde dir keinen Grund geben, diese Entscheidung zu bereuen."

Und das ist der Satz, den ich heute morgen wohl von ihr gebraucht habe. Der eine kleine Satz, der mir etwas Sicherheit gibt in einem Moment, den ich nicht kontrollieren kann. In einer Situation, wo keiner mir sagen kann, wie sie sich entwickelt und wie sie irgendwann ausgehen wird.
Anissa: Störe ich dich gerade eigentlich, oder hast du Zeit?"
Chris: Du stört nie. Ich habe gerade nicht...Mist, mein Essen!"
Anni fällt vor Lachen aufs Sofa, was ich nur am Rande noch mitbekomme und höre und ich bin froh, dass Nudeln zumindest nicht anbrennen können. Wieder so typisch für mich. Ich rette mein Essen, während Anni versucht sich wieder zu beruhigen. Im Anschluss packe ich mir ein bisschen was auf einen Teller und nehme Anni mit ins Wohnzimmer, wo ich esse und wo wir beide zusammen den Abend verbringen...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now