Kapitel 43

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Ich glaube, dass es eine Künstlerkrankheit ist, dass niemals irgendeine Show zur richtigen Zeit anfängt. Alles hat immer Verzögerung, und so auch der Musiker, der hier heute spielt. Wie gesagt, ich hatte von ihm bisher ein Lied gehört bei der Sendung, wo mein Bruder und ich vor einigen Jahren waren. Aber heute schaue ich ihn mir an, damit ich mit ihr hier sein kann.

Ich weiß nicht, ob Anni jemals bei einen anderen Künstler war, seitdem sie hier in Berlin lebt. Ich bin froh, dass er genau unseren Humor trifft, wobei es kaum einen Unterschied diesbezüglich bei Anni und mir gibt. Wir lachen über denselben Unsinn. Neben den humoristischen Liedern gab es auch ernste Themen, aber ich hatte den Abend sowieso die meiste Zeit meine Aufmerksamkeit bei Anni. Wie sie auf die Bühne schaut, die Zeilen verfolgt und so leicht, entspannt und glücklich aussieht, wie ich sie selten zu Gesicht bekomme. Wenn wir zusammen Zeit verbringen, wirkt sie generell entspannter als bei ihren Konzerten oder bei anderen verpflichtenden Events. Aber diesen Anblick würde ich durchaus als niedlich beschreiben. Sie sieht ihrem Alter entsprechend aus. Wie jemand, der noch viel erleben und entdecken will, auch wenn es nur für den Abend hier ist.

»Das wohlige Gefühl, ich bin gerade genau dort, wo ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Frei von allen Zweifeln, Ängste, Sorgen und wunderbar geborgen bis zum nächsten Morgen. Bis dein Wecker schellt um acht, ich wäre gern bei dir heute Nacht.«

Ich trinke etwas, als Anni ihre Hand merklich zu mir rüberschiebt. Zögernd stelle ich mein Glas ab und schaue zu ihr hin. Sie löst ihren Blick von der Bühne, legt ihren Kopf etwas zur Seite und schaut mich mit ihren leicht lächelnden Blick an, der mich sowieso wieder zum verlegenen Lächeln bringt. Sie weiß, wie sie mich in Verlegenheit bringt. Trotzdem lege ich meine Hand auf ihre ab, damit sie nach meiner greifen und sich wieder auf das letzte Lied von Wartke konzentrieren kann. Ich hingegen schaue auf ihre kleine Hand. Sie ist nicht wirklich kleiner als ich, aber ihre Hand ist so klein, zierlich und rau. Hände einer Bassistin. Ich weiß, wie sich diese auf der Haut anfühlen. Das Lied geht gute fünf Minuten, da alle Lieder von ihm in den Rahmen sind, ist das kein wirkliches Wunder. Es ist das letzte Lied, daher wird danach applaudiert, allerdings richtet Anni ihren Blick wieder zu mir und wir beide sitzen uns still schweigend gegenüber, sagen nichts, bewegen uns nicht, wobei sie noch immer meine Hand festhält. Ich streiche ihr sanft über den Handrücken, sodass sie darauf runterschaut, bevor sie wieder zu mir schaut.

Als der eine Kellner, der hier heute Abend arbeitet, an uns vorbeigeht, nehmen wir unsere Hände wieder zu uns und schauen uns beide unbeholfen im Raum um. Falsche und seltsame Entscheidung Chris. Es war einfach nur die Atmosphäre und das Lied. Es war alles, was um uns gerade passiert ist, mehr nicht.
Anissa: Wolltest du noch etwas trinken, Chris?"
Anni reißt meine Aufmerksamkeit wieder zu sich. Sie trinkt gerade ihr Glas aus und stellt das auch wieder auf den Tisch ab. Ihren Kopf hat sie wieder leicht schräg gelegt und dabei lächelt sie mich wieder so typisch für sich an, dass ich auch lachen muss.
Chris: Ich weiß gar nicht so genau. Willst du noch bleiben? Gestern war schon so lang und ich bin echt nicht wach geworden den Tag über."
Es ist gerade zehn Uhr, also eigentlich noch viel zu früh für mich, aber bei dem, was gestern Abend in dem Club war und dass wir auch erst um fünf wieder zu Hause waren, zerrt noch sehr an meiner Aufmerksamkeit.
Anissa: Ich glaube, nach Hause, wäre nicht so schlecht. Ich bin wirklich erledigt vom Tag."

Ich nicke, da es mir ja genauso geht. Ich kümmere mich um die Rechnung, die noch beglichen werden muss und gehe danach wieder zu unserem Tisch. Anni steht auf, als ich wieder bei ihr bin. Wie vorhin in ihrer Wohnung streiche ich ihr das Haar aus dem Gesicht, damit ich ihr die Mütze aufsetzen kann. Ihren Zopf steckt sie sich selbst in ihren Hoodie, damit sie ihre Kapuze aufsetzen kann. Ich ziehe mir die warme Jacke wieder an und lege meine Haare unter der Cap wieder ordentlich hin. Um etwas nach zehn verlassen wir die Bar und gehen den Weg auch wieder zurück, damit wir zur S-Bahn kommen.
Anissa: Danke Chris."
Sie geht wieder neben mir, schaut still auf den Weg oder in den Nachthimmel. Die Sterne kann man kaum erkennen, da die Stadt so hell beleuchtet ist.
Chris: Ich habe dir nur einen Abend in einer Bar gegeben, mehr nicht."
Anissa: Du hast mir einen Abend gegeben, an dem ich Erinnerungen sammeln konnte. Welche, wo nur wir beide sind. Kein John, keine anderen und vor allem nicht ich vereinsamt. Du hast viel mehr getan, als mir einfach nur einen Abend in einer Bar zu geben. Danke Chris."
Ich lächle und das mache ich auch, als sie nach meiner Hand greift. Ich schaue an unseren Händen herunter und drücke ihr leicht.
Chris: Für dich immer wieder gerne."

Zu dieser Zeit wartet an dieser Station keiner mehr. Dieses Mal müssen wir fünf Minuten auf den Zug warten, der auch mehr oder weniger in der Zeit ankommt. Wieder nehmen wir beieinander Platz, wobei wir dieses Mal nebeneinander sitzen, da keiner die Hand des anderen loslassen will. Es sind ein paar Stationen, bis die aufgerufen wird, wo wir beide wieder aussteigen müssen. Bei dem Gebäude muss Anni draußen die erste Tür aufschließen und auch im Fahrstuhl, als wir beide dort stehen, muss sie ihren Schlüssel nutzen, damit wir in ihre Wohnung kommen. Das ist auch der Moment, wo wir die Hand des anderen loslassen und jetzt schweigend beieinander stehen.

Die Türen öffnen sich und wir stehen wieder in der Wohnung. Diesen Abend kommt Sylvester nicht zu uns, da er schläft. Während ich meine Schuhe, Jacke und Cap ablege, hat Anni das mit ihren Schuhe getan und auch die Mütze liegt wieder auf der Ablage. Ihre Haare löst sie aus ihren Zopf, sodass die wieder an ihr herabfallen. Sie geht sich selbst dadurch, bevor wir einander wieder anschauen. Stille. Bedrückende und peinliche Stille.
Chris: Ich...lege mich schlafen. Es ist spät. Morgen können wir noch zusammen frühstücken, bevor ich wieder los muss. Nacht Anni."
Sie nickt schweigend und lässt mich gehen. Als ich aber bei meiner Tür bin und gerade nach der Klinke greifen will, packt sie meinen Arm und zieht mich von der Tür weg und zu sich hin.
Anissa: Bitte...nicht...leg dich nicht in deinen Zimmer hin."
Chris: Was...warum...ich..."
Anissa: Bleib bei mir heute Nacht...bitte..."

Ich bin zu überfordert, als dass ich auf diese Aussage oder Frage antworten könnte. Da sie meinen Arm gerade festhält, nimmt sie mich mit, bis wir im Wohnzimmer sind. Ich stoppe Anni, greife nach ihren Schultern und lehne sie mit ihren Rücken gegen ihren Flügel. Ich versuche sie ruhig anzuschauen, wobei Anni eine ihrer Hände an meinen Kopf legt und mich anschaut. Ihren Blick kann ich kaum standhalten.
Anissa: Ich will nicht, dass du gehst...du hast mir gezeigt, wie schön mein Leben gerade sein kann, obwohl ich es hasse."
Ich schaue sie an. Also habe ich gestern doch die Wahrheit gesagt. Eine Wahrheit, die sie einzig mir hier gerade eingestanden hat und sich selbst.
Anissa: Bleib noch bei mir, auch wenn es nur jetzt noch ist...lass mich nicht allein...ich will nicht, dass du gehen musst."
Ihre Hand fällt an ihren Körper herab und ihren Kopf lässt sie leicht hängen, da sie nicht weiß, was sie gesagt hat und was meine Antwort ist. Als ich nun meine Hand unter ihren Kopf lege und den anhebe, schauen wir beide uns an. Diese Frau hat etwas in mir hervorgerufen, was ich die letzten Jahre nicht gespürt, gefühlt oder empfunden habe. Sie hatte es mir damals schon gegeben, im Hotel. Und auch wenn wir beide komplett nüchtern sind, keiner kann sich rausreden, so stehen wir uns hier derartig gegenüber, bis ich ihren Kopf langsam näherkomme.
Anissa: Chris..."

Meine Hand hält ihren Kopf noch fest, als unsere Lippen aufeinandertreffen. Ich dachte, es wäre ein Fehler. Sie damals angesprochen zu haben. Sie ins Zimmer gebeten zu haben. Sie wiederzusehen. Sie jetzt zu küssen. Aber Anni holt etwas hoch, was ich zu lange nicht hatte und was ich zu lange vermisst habe. Ihre Arme legt sie mir um den Hals, versucht mich etwas näher zu sich zu holen, etwas länger bei mir zu bleiben, aber wir lösen uns dennoch voneinander, obwohl es wohl keiner will.
Anissa: Hör bitte nicht damit auf...bleib die Nacht bei mir Chris..."
Chris: Wenn du mich lässt..."
Anissa: Ich will dich, Chris..."
Anni küsst mich ein weiteres Mal. Sie lässt zu, dass ich es danach wieder mache. Wir verlieren uns, die Zeit, die Vernunft und das, was gegen uns und gegen das spricht, was es zwischen uns werden wird...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now