Kapitel 94

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Stunden, nachdem ich nach Hause gekommen bin, laufe ich noch immer durch meine Wohnung. Im Hintergrund läuft über meine Anlage eine Playlist auf Spotify, die Chris mir mal geschickt hatte. Aber immer wieder wird das unterbrochen, da Nachrichten von WhatsApp reinkommen.

187 ungelesene Nachrichten auf WhatsApp und ich ignoriere sie alle. Sie sind nicht die Nachricht, auf die ich warte. Noch immer stehe ich unter Schock. Wie konnte das bitte passieren? Warum hatte man uns in den Moment beobachtet? Warum wusste man, dass wir beide da sind? Warum musste uns beiden das bitte passieren? Noch immer laufe ich durch meine Wohnung, versuche nicht gegen Wände zu laufen oder wieder zusammenzubrechen. Immer wieder fange ich an zu weinen, fasse mich, mache weiter und weine im Anschluss wieder. Deswegen bin ich in all den Jahren nie rausgegangen. Allein. Unter so viele Menschen. Es musste passieren. Mir wird einfach kein normales Leben gegönnt. Und jeder, der in meiner Nähe ist, ist dieser Gefahr auch noch ausgesetzt. Meine Gedanken kommen ab. Denken wieder an den Artikel, wo ich nicht mehr geschafft habe, als die Überschrift zu lesen. Ich konnte nicht. Wenn ich jetzt wieder daran denke, stockt mir der Atem. In mir verkrampft sich alles. Ich bekomme schlecht Luft. Mir wird schlecht. Meine Sicht verschwimmt. In einen solch privaten Moment abgelichtet zu werden...ich bin wütend. Traurig. Ängstlich. Schockiert. Ich bleibe stehen, atme durch, versuche die Ruhe und Fassung zu bewahren, damit ich nicht durchdrehe. Ich brauche jemanden, aber jeder, der mir gerade schreibt, spricht mich nur auf den Artikel an. Immer wieder wird das aktuelle Lied unterbrochen, weil eine Nachricht reinkommt. Immer wieder leuchtet mein Handy auf, weil jemand anderes den Artikel kommentiert. Immer wieder ist es nicht die Nachricht, auf die ich seit Stunden warte.

210 ungelesene Nachrichten auf WhatsApp und noch immer ignoriere ich sie alle. Sie sind noch immer nicht die Nachrichten, auf die ich warte. Warum schreibt er nicht? Warum meldet er sich nicht? Eine Nachricht. Ein Anruf. Nur ein kurzes Lebenszeichen von ihm. Wie geht es ihm? Was macht er? Hat er es überhaupt schon gesehen? Weiß er, dass dieser Artikel im Internet steht? Dass man etwas über uns beide lesen kann? Ist es alles, was man darüber finden kann? Ein Artikel? Mein iPad auf dem Tisch bekommt keine Nachrichten und ist das, womit ich ins Internet gehe. Auf Google gebe ich einzig Anissa Sanders und Chris Ehrlich ein und bekomme an oberster Stelle wieder den Artikel angezeigt. Ich schaue weg. Versuche das unwohle Gefühl runterzuschlucken. Ich gehe auf den News Abteil und bekomme neben den Artikel, der auch auf anderen Seiten vorhanden ist, weitere Beiträge. Aber nicht einzig über mich, sondern über Chris. Ein Video. Er hat es mitbekommen. Er muss es mitbekommen haben. Meine Hand bewegt sich über den Bericht, den ich nur anklicken müsste. Es dauert aber eine geschlagene Minute, bis ich mich dazu überwinden kann. Dabei komme ich nicht mal dazu, dass ich mir den Text dazu durchlesen kann. Nein. Automatisch beginnt ein Video, was es wieder schafft, dass ich meine Hände vor meinen Mund schlage und kurz darauf Tränen mein Gesicht runterlaufen. Chris. Bedrängt. Verfolgt. Panisch. Überfordert. Er versteckt sich. Wird genötigt. Als er aufschaut – es zerreißt mich – schreit er. Lasst mich in Ruhe! Es tut mir so leid Chris...es tut mir so verdammt leid...

247 ungelesene Nachrichten auf WhatsApp und weiterhin werde ich sie aktiv ignorieren. Ich werde erst wieder Zeit dazu verschwenden, wenn sein Name auf meinem Display aufleuchtet. Was haben sie ihm angetan? Was hat das jetzt wieder in ihm ausgelöst? Ich will diese Blicke von ihm vergessen. Ich will das Schreien von ihm vergessen. Ich will alles vergessen, was ich gerade sehen musste. Ich will nicht sehen, wie zerbrechlich er sein kann. Wie zerbrochen er gerade ist. Mein zweites Handy zeigt noch immer keine Reaktion auf meinen Anruf von vor Stunden. Wo ist er? Auf Arbeit? Zu Hause? Bei seinem Bruder? Ihm wird nichts zugestoßen sein, richtig? Wenn er nicht mitbekommen hat, dass ich angerufen hatte? Sollte ich mich einfach nochmal melden? Ich will wissen, wie es ihm geht. Ich muss wisse, was mit ihm los ist. Ich bekomme keine ruhige Nacht, wenn ich ihn nicht nochmal gesprochen habe. Das Lied im Hintergrund wird wieder unterbrochen. Mein anderes Handy blinkt wieder auf, aber meines, wo er meine Nummer von hat, ist still. Nur ich wähle wieder seine Nummer und hoffe, dass er dieses Mal rangeht.

»Hi! Hier ist die Mailbox von Chris. Ich bin gerade wohl nicht in der Nähe meines Handys oder hole meinen Schlaf nach. Hinterlass mir eine Nachricht, ich melde mich dann schon wieder. Bis dann!«

Meinen Kopf lasse ich während des Textes in den Nacken fallen. Er ist noch immer nicht erreichbar. Warum nicht? Sonst ist dieser Mann auch fast immer in der Nähe seines Handys. Es ist ein wunder, wenn er mal nicht innerhalb von Minuten auf eine Nachricht antwortet und jetzt beachtet er mich seit Stunden schon nicht.
Anissa: Chris...bitte melde dich, wenn du das hörst. Ich muss mit dir reden, bitte...ich mache mir unfassbare Sorgen..."
Ich lege danach auf und das Handy aufs Sofa. Um meine Beine läuft wieder Sylvester. Auch wenn ich unter Schock stand und komplett neben mir, ich habe ihn etwas zum Fressen geben können. Danach kam auch er nicht zur Ruhe. Auch jetzt nicht. Zuerst streichle ich ihn nur, bevor ich ihn vorsichtig auf den Arm nehme. Dabei ist er derjenige, der sich an mich kuschelt, beginnt zu schnurren.
Anissa: Ich habe Angst Sylvester...ich weiß einfach nicht, was ich machen soll...das wird mir einfach gerade alles zu viel..."
Sein kleiner Kopf liegt an meiner Schulter, ich gehe ihm durchs Fell und laufe zum Sofa hin, damit ich Sylvester dort wieder runterlassen kann. Er schaut mich an, zu mir rauf und ich laufe wieder unruhig in meiner Wohnung umher.

279 ungelesene Nachrichten auf WhatsApp und noch immer ignoriere ich sie, da es verdammt nochmal nicht die Nachricht ist, die ich brauche. Es ist zwei am Morgen, ich bin müde und weiß zugleich, dass ich keinen Schlaf finden kann. Aber am Ende ist es Sylvester, der erschöpft bei mir sitzt und dabei fast immer wieder einschläft, der mich daran erinnert, dass ich die Nacht nicht durchmachen kann. Ich muss mich hinlegen und Chris hat das vermutlich auch gemacht. Vielleicht braucht er nach sowas seine Ruhe und will mit keinem reden. Weiß ich das? Ich seufze, ein letzter Versuch.

»Hi! Hier ist die Mailbox von Chris. Ich bin gerade wohl nicht in der Nähe meines Handys oder hole meinen Schlaf nach. Hinterlass mir eine Nachricht, ich melde mich dann schon wieder. Bis dann!«

War auch irgendwie klar. Ich hoffe, dass es ihm gut geht und dass er einfach friedlich und ruhig zu Hause bei sich etwas Schlaf finden kann, was mir gerade nicht möglich ist. Auch ich gehe mit dem Handy in Richtung Schlafzimmer und lasse mich während des Piepens aufs Bett fallen.
Anissa: Wenn du das hörst, ruf mich bitte zurück. Ich habe Angst Chris...ich weiß einfach nicht, was...ich kann das alles nicht allein...bitte...es tut mir so leid..."
Danach ist der Anruf wieder beendet. Das Handy lege ich auf den Nachttischt, mich ziehe ich bedingt für die Nacht um und falle ins Bett. Mit bei mir liegt Sylvester, was auch der einzige Grund sein wird, warum ich halbwegs schlafen kann in der Nacht. Die Nacht nach dem Tag, der alles ändern musste...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now