Kapitel 107

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Anissa hat geschwiegen und den Kontakt ohne Begründung abgebrochen, da sie es gewusst haben muss. Sie muss gewusst haben, wer an allem schuld ist und dass sie allein dagegen machtlos sein wird. Anissa konnte sich denken, dass es niemals aufhören wird, wenn ihre Band nicht hinter ihr steht. Und sie hatten recht, die Band ist in ihren Grundzügen aufgelöst, die besten Freunde von einst sind es nicht mehr. Und jetzt...ist es mit ihnen vorbei?

Die Zeitschrift mit dem Artikel liegt seit Stunden auf dem Tisch im Wohnzimmer. Ich habe in der Zeit die Wäsche gemacht, den Käfig von Tweety aufgeräumt, das Abendessen für mich gemacht und den Müll runtergebracht. Alles, damit ich mich davon ablenken kann, herauszufinden, was dort über die Band steht, was mit ihnen los ist und wie es weitergehen soll. In der Zeit habe ich die Accounts der Bandmitglieder und den offiziellen der Band gesamt durchgeschaut. Seit Tagen ist alles stillgelegt. Kein neues Bild. Keine Tourdaten. Keine verlinkung. Kein Management. Keine Story. Nichts. Es ist, als würde die Band nicht mehr existieren. Das Internet ist selbstverständlich voll mit den Artikeln zu der Band. Aber dort steht alles und viel zu viel. Und über die Klatschpresse möchte ich nicht nachdenken, da dort der größte Unsinn geschrieben ist. Ich lasse es sein, den Artikel liegen, versuche mich abzulenken und laufe immer wieder auf die Zeitschrift zu.

Tweety sitzt auf seinem Käfig und schaut mich an. Gut, ich sitze auf dem Sofa vor meinem Tisch und starre am Abend noch auf den Artikel. Immer wieder gehe ich nur die Headline durch und versuche zu verstehen, wie es dazu kommen konnte und wie es der Band jetzt gerade ergehen muss. Alles Aus! – Public Therapy sagt Tour ab und trennt sich unverzüglich von Manager und Plattenfirma! Wenn Ivon sowas bei uns machen würde, hätte ich danach die größten Vertrauensprobleme, die ich mir vorstellen könnte. Ich weiß, dass ich immer zu ihr gehen kann und dass sie immer versuchen wird, uns beiden zu helfen, damit es uns gut geht, damit wir weniger Probleme und Sorgen haben. Und dann ist dieser Mensch schuld an all dem, was einen in den letzten Jahren angetan wurde.
Chris: Gott! Erschreck mich nicht so."
Tweety sitzt vor mir auf dem Tisch und läuft darüber. Dabei zerkratzt er mit seinen Füßen etwas die Vorderseite der Zeitschrift. Silvana wird mir hoffentlich verzeihen. Mit meiner Hand gehe ich vorsichtig über das Bild der Band, bis ich danach greife.
Chris: Es ist die einzige Info, die ich über Anissa bekommen kann. Immerhin wird sie sich vermutlich weiterhin nicht melden oder auf meine Kontaktversuche reagieren."
Als ich die Zeitung dann vom Tisch wegziehe, entfernt sich Tweety auch wieder davon. Er fliegt weg und setzt sich auf dem Ast über seinen Käfig. Ich will mich zuerst bequemer hinsetzen, aber die Ruhe dafür habe ich überhaupt nicht. Die Zeitschrift bleibt auf dem Tisch liegen und ich schlage die Seite auf, die vorne angegeben wird.

Alles Aus! – Public Therapy sagt Tour ab und trennt sich unverzüglich von Manager und Plattenfirma!
Die internationale Rockband »Public Therapy« stand in den letzten Jahren unter keinen guten Stern. Die Alben und Tickets verkauften sich gut, aber unter dem Druck der medialen Aufmerksamkeit brach die Band nach und nach auseinander. Jetzt kam raus, dass der langjährige Manager hinter allen Artikeln steckt. Die Band zieht die Reißleine, beendet die Zusammenarbeit und sagt alle Termine ab! Wie geht es jetzt weiter?

Sex, Drugs und Rock 'n Roll – Das ist wohl das Leben jedes Rockstars. Auch »Public Therapy« lebt diesen Traum, aber der Erfolg der Band wurde in den letzten Jahren immer wieder von negativen Schlagzeilen überschattet. "Alkoholabsturz", "Wiederholte Affäre im Club" oder "fragwürdige Fetischparty in Berliner Privatclub gesprengt". Zuletzt wurde die Beziehung von Bassistin Anissa Sanders zu Magier Chris Ehrlich (Christian Reinelt) thematisiert. Was an all den Geschichten dran ist, steht jetzt in Frage. Der ehemalige Manager der Band, James Koethe, hat in den vergangenen Jahren Videos, Bilder und Beichten mit falschen Wachmännern, eingeschleusten Gästen und installierten Kameras gesammelt und diese verkauft. Das kam kurz vor ihrer nächsten Europatour ans Licht und Public Therapy zieht gleich eine Konsequenz daraus: Sie trennen sich von ihrem Manager und der Plattenfirma und sagen ihre große Tournee sofort komplett ab.

Und jetzt? Die Band wird von Kollegen sehnlich erwartet, aber auf allen Kanälen herrscht Funkstille. In den letzten Tagen wurden alle Mitglieder gesichtet, wie sie die Stadt Berlin verlassen haben. Wohin es geht, weiß keiner. Eine Auszeit scheint wahrscheinlich. Der ehemalige Manager James Koethe darf sich jetzt auf eine hohe Strafe einstellen, die er entweder Zahlen oder absitzen muss. Wir hoffen, dass wir die Band bald in ihrer einstigen Stärke wieder auf einer Bühne spielen sehen werden und dass sie diese Krise gemeinsam überstehen können.

Die Zeitschrift lasse ich aufgeschlagen auf dem Tisch liegen und lasse mich selbst ins Sofa fallen. Zuerst ist mein Blick noch auf den Text gerichtet, bevor ich meinen Kopf auch in den Nacken fallenlasse. Was für ein Ende die gesamte Geschichte genommen hatte. Dabei kam es einen immer so vor, als wäre James für die Band ein richtiger Segen. Und am Ende hat er aber den Untergang der Band eingeleitet.
Chris: Was für ein Mist..."
Wie geht es weiter? Wo sind sie hin? Was machen sie jetzt? Da steht, sie haben alle zusammen die Stadt verlassen. Wohin? Raus, einfach raus aus den Dingen, die sie gerade belasten und die sie regeln müssen. Ändert nichts an der Sache, dass ich für Anissa da sein will. Wie soll ich aber mit ihr in Kontakt kommen? Sie will ja einfach nicht mit mir in Kontakt sein...weil "sie schuld daran ist". Anissa konnte nicht verhindern, dass sowas passiert und deswegen dachte sie, dass es das Beste für mich ist. So würde ich niemals mehr darunter leiden müssen, was durch die Artikel berichtet wird, die sie nicht hätte verhindern können.
Chris: Verdammt Anissa, mach nicht so einen Unsinn..."

Mein Handy lag sowieso die ganze Zeit bei mir. In den letzten Tagen hatte ich es allerdings ignoriert und ich habe mich nie gewagt, sie nochmal anzuschreiben. Da habe ich aber auch immer wieder darüber nachgedacht, ob ich es tut sollte, jetzt handle ich einfach.

»Moin, hier ist die Mailbox von Anissa. Ich bin gerade leider nicht zu erreichen. Ich stehe entweder auf einer Bühne, bin im Studio-«

Ich lege vorher auf, bevor ich eine Nachricht hinterlassen könnte. Das Handy fällt neben mir aufs Sofa, mein Kopf auf die Lehne und meine Gedanken sind bei Anissa...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now