Kapitel 89

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Es ist etwa neun Uhr, als wir in die letzte Straße kommen, wo Mike und Paul uns hingebracht haben. Vermutlich weiß Chris auch genau, wo wir sind und nur ich laufe hier planlos umher. Mir aber egal, da er noch immer meine Hand hält und in dieser Zeit ist alles gerade gut so, wie es ist.

Mike und Paul sind die erste, die stehenbleiben, da sie ein bisschen vor uns gehen. Auch Chris und ich werden langsamer, bis wir stehenbleiben und unsere Hände voneinander lösen. Ich schaue verwirrt zu Chris, der allerdings nur zu seinen beiden Freunden schaut.
Chris: Es hat geschlossen, oder?"
Mike und Paul drehen sich jetzt zu uns um, halten ihrer Räder noch fest, fangen beide aber auch an zu nicken.
Mike: Ja, der ist heute dicht. Ich hätte vorher mal auf Google schauen sollen. Dabei war ich mir sicher, dass er heute noch geöffnet hat."
Paul: Und wie machen wir jetzt weiter?"
Mich müssen sie nicht anschauen, diese Stadt kenne ich überhaupt nicht. In Berlin hätte ich Pläne, was man noch machen könnte, dort sind aber auch an jeder Ecke Clubs oder Orte, an denen man feiern gehen oder eine gute Zeit haben kann. Die drei schauen sich an, wobei es so aussieht, als hätten Mike und Paul eine Lösung, die sie nicht ansprechen.
Chris: Dann fahren wir zu dem, wo wir letztes Mal auch waren."
Paul: Du weißt aber schon, dass das eine ganz schöne Strecke ist. Selbst mit dem Fahrrad sind wir eine Zeit unterwegs."
Chris: Dann fährst du mit Mike und ich mit Anni."
Was wurde da gerade abgesprochen, ohne, dass ich etwas dazu sagen durfte oder konnte? Wo gehen wir bitte wie jetzt hin?

Ich stehe verwirrt und leicht überfordert am Straßenrand, während Chris zu Paul geht und von ihm das Fahrrad überreich bekommt. Paul geht zu Mike und setzt sich auf den Gepäckträger, hält sich an seinen Schultern fest und schaut nochmal zu uns zurück.
Paul: Wir sehen uns dort. Macht nicht zu lange."
Mike muss lachen, bevor er anfängt zu fahren, sodass wir die beiden nach kurzer Zeit auch nicht mehr sehen können. Noch stehe ich am Straßenrand, bevor ich zu Chris schaue.
Anissa: Und so sollen wir beide jetzt auch heile da ankommen?"
Chris: Ich habe es letztes Mal auch überlebt."
Anissa: Dann hattest du mich aber auch nicht als Mitfahrerin."
Hätte man mir vor einiger Zeit gesagt, dass ich das mal machen würde, auf dem Gepäckträger eines Fahrrades mitfahren, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt. Sowas würde ich niemals machen...und jetzt sitze ich hier hinter Chris in Münster auf dem Gepäckträger des Fahrrad seines Freundes.
Chris: Halte dich bitte gut fest, Anni."
Danke, ich habe auch nicht vor runterzufallen! Verdammt nochmal, wir waren uns schon näher und trotzdem kommt mir diese Situation so seltsam vor, dass ich nur zögernd meine Hände auf seine Schultern legen kann. Ich merke, dass Chris versucht sein Lachen zu unterdrücken. Bevor ich allerdings nachfragen kann, nimmt er meine Hände von dort weg und legt die um seine Taille, wodurch er mich noch näher zu sich holt.
Chris: Wir müssen die beiden auch wieder einholen."

Die ersten drei Straßen und zwei Kreuzungen bin ich mir nicht sicher, ob ich bereit bin das Leben zu verlassen auf diese dumme Art und Weise. Aber als wir eine lange Straße runterfahren, wo keine Autos uns entgegenkommen, fange ich an den Moment zu genießen. Einfach bei ihm zu sein, wo er mir wieder einen Teil seines Lebens zeigt, was so viel Freiheit bedeutet. Freiheiten, die ich seit Jahren nicht so zu spüren bekommen hatte. Ich muss lächeln, als ich wieder die Lachfalten bei Chris sehe, da er es muss. Ich muss lachen, als Chris es muss und lege meinen Kopf an seinen Rücken, während er uns beide durch die Straßen steuert. Am liebsten würde ich diese Art des Lebens niemals wieder aufgeben. Niemals wieder nach Berlin und in mein gewohntes Umfeld zurückkehren, da das hier so viel mehr Lebensqualität hat als mein gesamtes restliches Leben.

Wir werden langsamer, ich schaue auf und sehe, dass wir dem Gebäude näherkommen, was wohl unser Ziel sein dürfte. Als ich davor auch Mike und Paul wieder zu sehen bekomme, weiß ich, dass wir angekommen sind und ich lebe noch. Chris hält, lässt mich runter und stellt das Fahrrad danach zu dem von Mike, damit er im Anschluss zu uns kommen kann.
Mike: Dann können wir endlich reingehen."
Paul: War sie eine gute Mitfahrerin?"
Chris: Eine sehr bezaubernde Mitfahrerin."
Chris lacht und schaut zu mir hin, während ich versuche ihm nicht den Gefallen zu tun und zu lachen. Vergebens, natürlich. Die Menschen am Einlass sind deutlich entspannter als jeder andere, den ich in Berlin zu sehen bekommen habe. Aber drinnen ist wieder die gleiche Stimmung. Es ist laut, man kann kaum etwas sehen und die Luft ist mehr als stickig. Manche Dinge sind eben überall gleich. Damit ich nicht stumpf im Raum stehenbleibe, nimmt Chris wieder meine Hand und geht mit mir an die Seite, wo wir uns alle etwas zu trinken bestellen. Dieses Mal bin ich auf seine Hilfe angewiesen, aber er konnte sich noch daran erinnern, was ich damals im Berghain getrunken hatte. Hier gibt es keinen privaten Bereich. Wir vier trinken erstmal unsere Gläser aus, bevor wir irgendwie tanzen können. Zwischendurch verlieren wir Mike und Paul etwas aus den Augen, aber scheinbar stört das keinem hier. Hier ist noch mehr Platz als im Berghain, wo man immer dicht beieinander stehen muss. Zwischendurch gehen Chris und ich immer wieder etwas trinken und mit der fortschreitenden Zeit kommen mehr Menschen und der Platz auf der Fläche im Raum wird auch geringer.

Chris und ich wurden irgendwann etwas weiter an den Rand getrieben, was aber uns beiden egal war. Wir haben zusammen eine gute Zeit, die ich in den Wochen zu Hause so vermisst habe. Im Hintergrund läuft irgendein Song, der gerade in den nächsten ausläuft, wir beiden weichen immer wieder den zukommenden Menschen aus, bis wir einander nicht mehr ausweichen können. Ich schaue zu ihm rauf, spüre seinen Körper wieder an meinem. Wie damals, legt Chris seine Arme um meine Hüfte und holt mich dadurch noch näher zu sich, obwohl ich dachte, dass das nicht mehr gehen dürfte. Ich will gerade meine Arme wieder um seinen Nacken legen, werde aber von seinem Blick davon abgehalten. Den gleichen, den er mir vorhin im Zug gezeigt hatte. Ich habe mich verflucht, dass ich ihn dort nicht einfach geküsst hatte, dass diese dämliche Durchsage uns davon abgehalten hatte. Es fühlte sich in den Moment verdammt richtig an und dann wurde uns der Moment von dieser Unterbrechung genommen.

Mit jedem weiteren kleinen Moment, wo Chris mich derartig bei sich hält, fühlt sich dieser Moment aber genauso richtig an, wie der vergangene. Jeder vergangene Moment mit ihm fühlte sich immer richtig an, aber es existierte nur zwischen uns beiden, in privaten Räumen. Jetzt, wenn er mich noch immer anschaut und sich auch von den anderen Gästen nicht ablenken lässt und eine Hand von mir löst, damit er diese an meinem Kopf legen kann, versetzt er mich wieder in dasselbe Gefühl wie zuvor. Diese Flut an Gedanken, was, wie, warum, wir, wird unterbrochen, als ich seine Lippen endlich wieder auf meinen zu spüren bekomme, als er mich endlich wieder küsst. Erst jetzt schaffen es meine Arme sich wieder um seinen Nacken zu legen, sodass ich ihn bei mir halten kann, damit er nicht wieder geht. Es soll bleiben, er soll bei mir bleiben, Chris soll und darf nicht wieder gehen. Wir beide kommen nur zögernd voneinander los, schauen einander an, ob alles okay wäre. Aber wir beide können uns nur gegenseitig anlächeln, weil unsere Lippen danach wieder aufeinander treffen. Wenn ich könnte, würde ich mir wünschen, dass dieser Abend hier mit ihm nie endet...

Two Sides of Our LifeDonde viven las historias. Descúbrelo ahora