Kapitel 96

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Sicht von Chris...

Ich sehe die Ordner, die im Regal stehen und die ich vorhin noch wieder einsortiert hatte. Auf dem Tischen stehen die Tassen, die Andreas und ich noch nicht wieder weggestellt hatten. Dazu die Stühle, wobei meiner umgekippt auf dem Boden liegt, weil ich mich daran aufziehen wollte. Vor der Tür liegt meine Jacke, die ich mir gerade eben noch ausziehen konnte und auch sehe ich noch meinen Computer, der aber schon runtergefahren ist. Wobei sehen auch langsam schwer wird, immerhin ist es draußen schon komplett dunkel.

Unter mit spüre ich den kalten Boden, wobei ein paar Sandkörner von draußen in meiner Hand stecken. Über den Stoff meiner Hose bin ich in den letzten Stunde immer wieder gestrichen. Mittlerweile spüre ich die raue Oberfläche fast gar nicht mehr. Mein Shirt fällt an mir herab, aber der leichte Stoff wärmt mich fast nicht mehr. Aber die Kraft fehlt mir, als dass ich zu meiner Jacke kommen könnte. Und ich fühle die kalten Teile meiner Kette, die ich heute umgelegt hatte. Ich werde immer erschöpfter, je länger ich hier sitze, aber zur Ruhe komme ich zu keinem Stück. Ich schließe meine Augen und versuche meine Umgebung wieder wahrzunehmen. Ich höre das leise Ticken der Uhr, was mich im Normalfall immer total verrückt werden ließ. Heute bin ich froh über dieses kleine Geräusch. Der tropfende Wasserhahn war in den letzten Stunden auch kein Thema, auch wenn wir uns darum kümmern sollten. Und irgendein Lärm findet vor der Tür statt, den ich nicht einordnen kann. Mir egal. Ist abgeschlossen. Die Luft hier im Zimmer ist mittlerweile sehr stickig, aber ich halte sie noch ein paar weitere Minuten oder Stunden aus. Der Geruch vom Kaffee ist fast vollkommen verschwunden, aber ich hatte noch welchen gekocht, bevor ich eigentlich gehen wollte. Für Andreas. Der wird jetzt allerdings kalt geworden sein. Und was ich noch schmecke, ist der salzige Nachgeschmack meiner Tränen, die ich in den letzten Stunden hier geweint habe.

Bin ich irgendwie wieder zu mir gekommen oder haben mich beruhigt? Nicht ein bisschen, aber ich habe auch nicht das Verlangen, dass ich gerade dieses Zimmer verlassen will. Hier bin ich zumindest sicher vor der Außenwelt. Hier bin ich für mich. Allein. Sicher. Abgeschottet. Hier kommt keiner rein. Vor zwei Wochen war alles noch gut und jetzt? Was ist passiert? Warum waren die da? Ich hatte, seitdem ich mich hier her geflüchtet habe, keine Kraft gehabt, als dass ich das hätte nachschauen können. Jetzt sitze ich dafür in Unwissenheit hier im Büro. Die nervig tickende Uhr im Hintergrund zeigt an, dass es knapp zehn am Abend ist. Ich bin so unendlich müde, aber ich kann nicht nach Hause fahren. Was ist, wenn sie noch immer dort sind? Wenn keiner sie wegschicken konnte? Was ist, wenn sie bei mir zu Hause sind? Wenn sie rausfinden, wo ich wohne? Ich schaffe das nicht nochmal. Wieder die Passwörter, Nummern und Adresse wechseln? Ich schaffe das nicht. Mein Kopf lasse ich auf die angezogenen Knie fallen, wobei ich zwar durchatme, aber gleich wieder spüre, dass einige Tränen auf meine Hände fallen. So viel zu: Ich brauche nur etwas Zeit für mich, damit ich auf andere Gedanken kommen kann.

Meinen Blick richte ich schlagartig wieder auf, als ich mitbekomme, dass meine Tür geöffnet wird. Im Zimmer steht dann mein Bruder, der zuerst nach dem Lichtschalter tastet, bis im Raum das Licht angeht. Daher muss ich meine Augen zusammenkneifen. Viel zu hell auf einmal.
Andreas: Mein Gott Christian!"
Ich bleibe sitzen. Rühre mich nicht. Rege mich zu keinem Stück. Nein, ich nicht. Aber mein Bruder lässt sich kurz darauf neben mir auf den Boden fallen und geht mit seinen Händen über meine Beine, damit ich zu ihm schauen würde.
Andreas: Geht es dir gut? Schon wieder eine? Wie damals?"
Ich schaffe es zu nicken. Ich dachte auch, dass ich damit klar komme, dass ich drüber hinweg gekommen bin und dass ich das alles im Griff habe. Habe ich wohl falsch gedacht.
Chris: Wie bist du hier bitte reingekommen?"
Andreas: Ich habe unseren Schlosser hergerufen, damit er die Tür aufmachen kann. Du hast überhaupt nicht auf mein Klopfen und Rufen reagiert."
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich das überhaupt wahrgenommen hatte. Die Stunden, die verstrichen sind, kommen mir so vor, als hätte ich mich gerade eben erst hier eingeschlossen. Bei sowas verliere ich immer komplett das Zeitgefühl.
Chris: Ich ersetze das Schloss schon..."
Andreas: Das ist mir doch komplett egal...ich habe mir Sorgen gemacht..."

Wieder bekommt er von mir nur ein schwaches Nicken als Antwort. Wenn ich könnte, würde ich einfach weitermachen, aber ich bin innerlich gebrochen und blockiert. Ich dachte, dass sowas niemals wieder passieren kann.
Andreas: Du siehst nicht gut aus, Christian."
Chris: Ich bin erschöpft, das ist alles. Ich...habe keine Kraft mehr für irgendwas."
Andreas: Dann solltest du nach Hause und-"
Chris: Vergiss es!"
Andreas erschreckt sich, weicht etwas zurück und atmet danach aus. Er kann sich daran erinnern, aber zu gewissen Zügen will er es vielleicht auch nicht wahrhaben.
Chris: Ich gehe nicht zu mir nach Hause...ich habe davor Angst, Andreas...bitte..."
Ich denke, dass ich ihm Angst mache. Sein Blick würde das zumindest aussagen. Weil er die ganze Zeit zu mir schaut, mich nicht einen Moment aus den Augen lässt. Er mustert mich, beobachtet jede kleinste Reaktion von mir und wie ich hier verkümmert vor ihm auf den Boden hocke. Ich gehe nicht nach Hause Andreas...versteh das bitte...
Andreas: Dann kommst du mit zu mir. Du musst zur Ruhe kommen."
Chris: Aber..."
Andreas: Mein Haus steht mit auf dem Gelände und ist daher kein Geheimnis. War es noch nie. Komm...es ist spät geworden."
Zuerst steht er auf und schaut im Anschluss zu mir nach unten. Wie ich noch immer auf dem Boden kauere und zu meinem großen Bruder aufschaue. Und als könnte er wissen, was in meinen Kopf los ist, reicht er mir eine Hand.
Andreas: Sie sind alle weg, versprochen."

Andreas würde mir niemals etwas versprechen, was nicht der Wahrheit entspricht. Andreas würde mich niemals im Leben hintergehen. Andreas ist gerade der einzige, den ich hier habe, auf den ich bauen kann und der für mich da ist. Daher nehme ich seine helfende Hand an und stehe nach all den Stunden wieder vom Boden auf. Er ist derjenige, der nach meiner Jacke greift und sie mir reicht. Nur beiläufig ziehe ich sie mir an und gehe ihm nach. Und als wir durch die große Tür auf den Hof gehe, zögere ich zuerst und gehe ihm nach einem zu langen Augenblick unsicher nach. Leere. Stille. Niemand. Nur wir beide, wie wir zum Haus meines Bruders laufen. Da sind wir beide. Er, wie er mir das Gästezimmer vorbereitet und ich, der dort einfach reinfällt. Erschöpft. Erledigt. Und dennoch beunruhigt...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now