Kapitel 97

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Die weiße Wand im Gästezimmer im Haus meines Bruders starre ich jetzt schon eine viel zu lange Zeit an. Die Strukturen der Raufasertapete habe ich immer wieder durchgezählt. In einer Fläche, die so groß ist wie meine Hand, kommen 74 solcher Punkte vor, wobei 8 nicht wirklich zählen.

Ich drehe mich auf den Rücken, lasse meinen Blick für einen Moment an der Decke verweilen, schlage dann aber die Arme über meinen Kopf zusammen. Keine Ahnung, wie spät es ist. Früh am Morgen. Mittags. Früher Nachmittag. Ich habe das Zeitgefühl komplett verloren. Bereits vor langer Zeit hätte ich aufstehen können, aber gerade ist dieses Bett in dem Zimmer hier der sicherste Ort, den ich mir vorstellen könnte. Hier wird nichts passieren und das ist alles, was ich gerade haben will und was ich brauche. Ich atme aus. Atme durch. Immerhin bin ich wieder etwas mehr bei mir, kann meine Gedanken sortieren und die Situation mehr oder weniger logisch betrachten. Ich habe keine Ahnung, warum das gestern passiert ist. Die waren bei der Halle, weil diese Adresse öffentlich ist. Danach hatte ich wieder einen Zusammenbruch. Und ich dachte, ich kann das kontrollieren und bin darüber hinweg. Ich bin nur bei meinem Bruder, weil ich gestern mit meinem Leben und der kompletten Situation überfordert gewesen bin. Es ist ein neuer Tag. Vermutlich wird die Situation nicht besser sein, aber ich kann sie anders betrachten. Zuerst muss ich rausfinden, warum das passiert ist und da kann mir mein Handy weiterhelfen. Auch wenn es nur noch 13% hat, dafür wird es noch ausreichen. In die Suchleiste gebe ich einfach Ehrlich Brothers ein und bekomme gleich oben eine Schlagzeile mit kurzer Vorschau präsentiert.

»My Lover« für ihn geschrieben? – Anissa Sanders scheinbar an bekannten deutschen Magier vergeben!
Passt perfekt! – Finden auch die Fans der Bassistin Anissa Sanders der Band Public Therapy und die des Magiers Christian Ehrlich des Duos Ehrlich Brothers. Eng umschlungen, zärtlich und deutlich verliebt wurden sie zusammen in Münster gesichtet. Dass die beiden Sternchen was am Laufen haben, wurde lange vermutet. Die Timeline hier im Überblick!

Oh. Mein. Gott. Nein! Das Bild, was gleich daneben angezeigt wird, widert mich an. Nicht, weil ich dort Anni bei mir habe und sie küsse. Nein! Weil es von den Medien benutzt wird, damit sie damit Geld verdienen können. Dieser Moment, der so lange gebraucht hat, bis er zwischen uns entstehen konnte, wurde von denen zerstört. Darunter werden mir auch einige Fotos und Videos von gestern gezeigt, als ich draußen auf dem Gelände der Halle überrumpelt wurde. Das kann ich mir allerdings nicht anschauen und lege das Handy danach wieder weg. Toll! Natürlich musste das passieren! Wenn mein Bruder das sieht, und das wird er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bereits gesehen haben, dann wird er mir etwas sagen, von wegen, er habe mich von Anfang an davor gewarnt. Ich atme genervt aus, während ich mich im Bett aufsetze. Vor meinen Füßen liegen meine Sachen, wo ich kurz drauf schaue. Ich muss den Tag anfangen, muss runtergehen, muss zu meinem Bruder. Wir müssen schauen, wie wir damit umgehen und wie es weitergehen soll.

Er sitzt in der Küche, schreibt an seinem Handy etwas und schaut erst auf, als ich gefühlt eine Minute schon im Türrahmen stehe. Steffi wird vermutlich die Kids wegbringen oder abholen. Ich bin froh, dass nur er hier ist. Ich will nicht, dass noch mehr mitbekomme, was los ist und was es mit mir anstellt.
Andreas: Konntest du etwas schlafen?"
Chris: Schon. Mir geht es auf jeden Fall besser als gestern Abend. Danke nochmal."
Andreas: Ich versuche dir nur zu helfen, das ist das mindeste."
Schweigen. Andreas schaut kurz auf sein Handy, danach wieder zu mir hin. Als wolle er etwas sagen, traut sich aber nicht. Er wird vermutlich was lesen. Den Artikel?
Chris: Du hast es schon gesehen?"
Kurz zeigt er darauf keine Reaktion, dann aber beginnt er zögernd zu nicken. Gut, dann muss ich ihm das nicht auch erklären. Er weiß also, warum das gestern alles passiert ist und er kann sich denken, was es noch mit sich bringen wird. Dabei schaue ich ihn die ganze Zeit an. Scheinbar verunsichert es ihn aber mit der Zeit.
Chris: Willst du es mir nicht sagen? Du hattest es gesagt. Ich hätte es wissen müssen."
Andreas: Das konnte nun keiner wissen. Damals kannte ich Anissa nicht und seitdem ich sie das erste Mal gesehen habe, ist mir klar, dass sie sowas niemals machen würde. Für sie ist das auch eine belastende Situation."

Ich habe mich noch gar nicht bei ihr gemeldet. Ich hatte gesehen, dass sie mich versucht hat anzurufen und dass sie auch Nachrichten hinterlassen hatte, aber bisher konnte ich mir die noch nicht anhören, geschweige ihr antworten. Vielleicht sollte ich das bald machen. Heute Nachmittag, wenn ich zu Hause bin. Ich muss heute wieder nach Hause, auch wenn ich mir Sorgen mache und Angst habe.

Andreas steht auf, lässt sein Handy auf dem Tisch legen und geht zum Schrank hin. Er holt daraus zwei Tassen und will uns wohl einen Kaffee einschenken. Die Milch dafür fehlt.
Andreas: Wir machen heute Pause, ich fahre dich später nach Hause. Bis zur Tour machen wir nichts, okay?"
Chris: Ja...danke."
Er lächelt und verlässt im Anschluss kurz die Küche. Auch wenn ich nicht sollte, ich werde auf sein Handy aufmerksam. Ich gehe näher daran und schaue auf den Chat.
Ivon: Ich habe niemanden auf Abruf, weil ihr das nie haben wolltet. Ihr wart immer gegen Sicherheitspersonal. Sowohl in der Halle als auch privat.
Andreas: Du hast ihn gestern aber nicht gesehen.
Ivon: Ich habe es von der Crew gehört und im Internet gesehen.
Andreas: Er wird nicht allein rausgehen. Du weißt, wie schlimm es damals für ihn war. Es wird nicht lange dauern, das meiste geht gegen Anissa. Zumindest für Chris, Ivon.
Ivon: Ich kann schauen, was ich organisiert bekomme. Ich melde mich, wenn ich einen Namen von der Agentur genannt bekommen habe. Ich hoffe, sie können schnell jemanden mobil machen. Dann hat er zumindest einen Leibwächter.
Andreas: Danke und das hoffe ich auch.
Nun bin ich also doch an den Punkt angekommen, an den ich meine Wohnung nicht mehr allein verlassen kann und will. Mein Leben war perfekt und jetzt...

Andreas ist dieses Mal derjenige, der im Türrahmen stehenbleibt und zu mir schaut. Vermutlich wollte er das mit mir besprechen und ich habe es so rausgefunden.
Andreas: Chris..."
Chris: Du hast ja recht...allein kann ich das gerade nicht. Danke, dass du dich darum kümmerst...ich könnte das gerade nicht..."
Ein erzwungenes Lächeln bekomme ich von ihm zu sehen, bevor er zu den Tassen geht und uns beiden einen Kaffee einschenkt. Ich setze mich in der Zeit auf einen der Stühle und versuche wach zu werden. Mit dem Kaffee funktioniert das am Ende auch etwas besser. Es war elf Uhr, als ich runtergegangen bin und bis zum Mittag blieb ich bei meinem Bruder im Haus. Erst danach konnte ich mich überwinden, dass ich das Haus wieder verlasse. Und das auch nur unter der Voraussetzung, dass Andreas zuerst rausgeht und nachschaut, dass ich raus kann. Ich konnte. Keiner war bei seinem Haus. Warum auch? Über Umwege geht es nach Enger. War mein Wunsch. Während dieser etwas längeren Fahrt höre ich mir auch die Nachrichten von Anni ab. Ich bin es ihr schuldig.

Sie haben einen neuen Anruf vom 16. Mai 2022, um 18.34 Uhr von Anissa. Der Anrufer hat eine Nachricht hinterlassen.
Anissa: Chris...es tut mir so...so...so verdammt leid...ich wollte das nicht...ich wollte das alles doch nicht..."

Die zweite Nachricht höre ich, als wir bei meinem Wohngebäude angekommen sind. Andreas parkt und lässt mich raus. Ich will allein gehen. Muss damit klar kommen.

Sie haben einen neuen Anruf vom 17. Mai 2022, um 01.21 Uhr von Anissa. Der Anrufer hat eine Nachricht hinterlassen.
Anissa: Chris...bitte melde dich, wenn du das hörst. Ich muss mit dir reden, bitte...ich mache mir unfassbare Sorgen..."

Die letzte spiele ich ab, als ich oben bei meiner Wohnung bin und die Tür gerade wieder hinter mir ins Schloss fallenlasse.

Sie haben einen neuen Anruf vom 17. Mai 2022, um 02.04 Uhr von Anissa. Der Anrufer hat eine Nachricht hinterlassen.
Anissa: Wenn du das hörst, ruf mich bitte zurück. Ich habe Angst Chris...ich weiß einfach nicht, was...ich kann das alles nicht allein...bitte...es tut mir so leid..."

Anni gibt sich die Schuld dafür. Sie muss gesehen haben, wie ich reagiert habe. Anni kann sich denken, wie es mir gehen muss, immerhin weiß sie, wie es mir damals erging und dass ich immer versucht habe, mich vor sowas zu schützen. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo Tweety auf seinem Käfig sitzt, ich habe ihn gestern nicht geschlossen, und wähle in den Moment die Nummer von Anni. Es dauert nicht lange, bis abgenommen wird.
Anissa: Chris...ich habe mir solche Sorgen gemacht...es tut mir alles so verdammt leid...ich hoffe, dass es dir gut geht..."
Ich kann kaum ihre Stimme erkennen. Auch sie hatte keine gute Nacht, auch sie ist aufgelöst und vermutlich hatte sie gestern auch den ein oder anderen Zusammenbruch.
Chris: Den Umständen entsprechend, würde ich sagen."
Anissa: Chris..."
Ihre zitternde Stimme zeigt mir, dass sie noch immer aufgelöst ist und kurz vor den Tränen steht. Ich atme durch. Uns geht es beiden schlecht.
Chris: Du kannst nichts dafür und musst dich nicht bei mir entschuldigen."
Anissa: Ich hätte es ahnen können...die Band...der Name..."
Chris: Und trotzdem kannst du nichts dafür. Das wird alles schon wieder, sicher."

Dieser Gedanke ist auch das einzige, was uns zusammenhält und uns nicht zerfallen lässt. Der Gedanke, dass sich alles legen wird und das alles gut werden wird...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now