Kapitel 101

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Sicht von Chris...

Mein Leben hat sich normalisiert. Ich kann normal wieder in die Halle zum Arbeiten gehen. Natürlich ist mein Mailpostfach noch immer voll von Anfragen von irgendwelchen Zeitungen, Sendungen oder ähnlichen, aber damit komme ich klar. Ich kann mich wieder allein mit Freunden treffen, rausgehen und mein Leben genießen. Die Tour läuft, es ist ruhiger geworden und das beruhigt mich auch.

Heute ist der letzte Tag, wo Clara noch mit mir meine Besorgungen erledigt hat. Dort gab es zwar nie Zwischenfälle, aber sicherer habe ich mich dennoch gefühlt. Da jetzt aber wieder alles normal zu sein scheint, ist sie ab morgen wieder wo anders eingeteilt. Ich lenke mein Auto ein letztes Mal auf den Platz vor dem Wohngebäude, während Clara durch ihre Playlist scrollt.
Clara: Wie kannst du Velvet Rain bitte nicht kennen, Chris!"
Wir beide haben keine Gemeinsamkeiten, das haben wir in den letzten zwei Wochen auch rausgefunden. Ich bin ein Katzenmensch, sollte ich mich gegen meinen Tweety entscheiden müssen, sie hat zwei Huskys zu Hause. Ich höre eher die Chart oder Rockmusik und sie liebt die Oper, klassische Konzerte und Kabarett. Sie ist total die Frühaufsteherin und ich die Nachteule. Ich habe einen sehr flachen Humor und ihre Witze verstehe ich zu den meisten Momenten einfach überhaupt nicht. Menschlich kamen wir beide aber gut miteinander aus und ich bin dankbar, dass sie bei mir war.
Chris: Tut mir leid, dass das leider kein Teil meiner Bildung gewesen ist."
Clara: Zum Glück konnten wir das etwas ändern."
Chris: Ich kannte allerdings auch Public Therapy nicht, bevor ich bei der Verleihung damals war. Und dabei hätte man denken können, dass ich sie kenne."
Clara: Wäre ich auch von ausgegangen. Besser spät als nie."
Ich halte an, stelle den Motor aus und nehme den Schlüssel entgegen.
Clara: Soll ich dir eben noch helfen, Chris?"
Chris: Wäre sehr nett von dir. Danach halte ich dich nicht länger auf."

Natürlich hätte ich die Sachen auch allein hochbringen können, aber wenn sie mir hilft, dann muss ich nicht in der Angst leben, dass ich auf halben Weg die Hälfte auf den Treppen verliere. Clara ist im Gegensatz zu mir auch nicht derartig tollpatschig. Ich nehme den Korb und sie die kleinen Einzelteile. Ich schaffe es noch, dass ich alle Türen aufschließe, die Treppe heile hochlaufe und bei meiner Wohnung ankomme. Clara läuft noch mit rein und in die Küche, damit sie dort die Sachen abstellen kann. Auch ich stelle den Korb auf den Tisch ab, bevor ich mich an Clara wende.
Clara: Also, das war es dann wohl."
Chris: Ja...danke nochmal für...einfach alles."
Clara: Dafür bin ich da. Ich fand es aber auch sehr lustig mit dir die Zeit zu verbringen."
Chris: Vermutlich, weil ich ein einziger Chaot bin."
Darüber muss sie lachen und scheinbar habe ich mit der Aussage auch recht. Immerhin brauchte ich sie zu wenigen Momenten und in den letzten Tagen wurden die immer weniger. Jetzt haben wir endlich Pause von allem. Keine Tour mehr, keine Veranstaltungen und keine Termine in den nächsten Wochen. Endlich etwas Freizeit. Heißt auch gleich, dass ich Clara nicht mehr täglich sehen werde.
Clara: Sollte etwas sein, dann kannst du dich immer wieder melden, verstanden? Meine Nummer hast du jetzt."
Chris: Werde ich machen, danke dir für die ganze Hilfe."
Mit einer stummen Geste antwortet sie auf meine Aussage und bringt mich zum leichten Lächeln. Ich dachte nie, dass ich jemanden wie sie bräuchte und am Ende war es nicht derartig grauenhaft, wie ich immer dachte.

Auch wenn sie den Weg zur Tür kennt, ich bringe sie noch zu meiner Wohnungstür, wo wir uns noch ein letztes Mal kurz verabschieden. Im Anschluss verabschiedet sie sich und geht zur Treppe, sodass ich die Tür hinter mir schließe und zuerst ins Wohnzimmer gehe, damit ich den Käfig von Tweety öffnen kann.
Chris: Jetzt hast du für den Abend auch noch Freiflug, Tweety."
Vermutlich hat er kein Gefühl von Tag und Nacht, aber ein paar Regeln muss es geben. Zudem brauche ich am Morgen keinen Vogel, der am besten noch vor der Tür oder auf meinem Nachttisch sitzt. In der Zeit, wo Tweety im Wohnzimmer ist, lasse ich über meinen Lautsprecher die Playlist von Anni und mir laufen, damit ich die Sachen vom Einkauf einsortieren kann. Die richtigen Dinge kommen in die Schränke oder in den Kühlschrank. Recht schnell ist alles weg, was ich gerade nicht brauche und das, was ich zum Abendessen brauche, bleibt auf der Arbeitsfläche stehen. Dann wird allerdings die Musik unterbrochen.

Mein Handy liegt im Wohnzimmer, sodass ich dort zuerst hingehe und draufschaue. Ich muss leicht lächeln, da es ein Anruf von Anni ist. Auch wenn wir normal schreiben oder über Facetime reden, eventuell passt es ihr gerade so am besten.
Chris: Hey Anni, hast Glück. Bin auch erst vor kurzem nach Hause gekommen."
Anissa: Das konnte ich von hier aus ja gar nicht sehen. Aber gut, dass ich dich erreiche."
Dieses »gut, dass ich dich erreiche« klingt nicht sehr positiv. Ihre ganze Art klingt nicht sehr positiv behaftet und macht mich stutzig.
Chris: Kam bei deiner Anwältin etwas neues raus?"
Anissa: Nein...also doch...nicht wirklich etwas wichtiges für...nicht von Bedeutung, Chris. Ich...alles gut bei dir?"
Chris: Ich denke ja. Clara ist gerade gegangen und ab Morgen arbeitet sie nicht mehr für mich. Eigentlich ist alles wieder in Ordnung, alles wieder normal und wir früher."
Anissa: Das klingt gut."
Ich kenne sie gut genug, dass ich ihre zögernde Art und die Weise, wie sie sich rausredet, sofort mitbekomme.
Anissa: Ich wollte etwas mit dir besprechen."
Chris: Natürlich! Du weiß, dass ich für dich da bin, alles verstehe und versuche irgendwie zu helfen, damit die Situation für uns beide besser wird."
Anissa: Ich weiß...deswegen sollten wir keinen Kontakt mehr zueinander haben."

Es reißt mir den Boden unter den Füßen weg, als sie das ausgesprochen hat. Wir sollen was? Ich taumle einen Moment im Wohnzimmer, bevor ich mich auf mein Sofa fallenlasse, damit ich die Worte durch meinen Kopf gehen lassen kann. Deswegen sollten wir keinen Kontakt mehr zueinander haben. Keinen Kontakt mehr zueinander haben.
Anissa: Es ist einfacher so, Chris. Das...wir beide sind zu anstrengend für das, was über die ganze Sache berichtet wird. Es wird niemals besser werden. Es lohnt sich nicht."
Chris: Ich verstehe..."
Anissa: Tust du nicht."
Meinen Kopf lasse ich in den Nacken fallen, presse meine Lippen aufeinander und kneife die Augen zusammen. Nicht hier. Nicht mit ihr am Telefon.
Anissa: Es ist die beste Entscheidung, wenn wir es hier lassen. Wenn wir beide kein Wort mehr über die Sache verlieren und es zur Seite und in Vergessenheit fallen lassen."
Chris: Natürlich...verstehe ich..."
Anissa: Tust du nicht, Christian."
Chris: Nein! Natürlich nicht!"

Ich stehe wieder auf und eigentlich auch zu schnell, dass mir schwindelig davon wird. Kann aber auch daran liegen, dass es gerade generell zu viel für mich ist.
Chris: Es lief alles gut zwischen uns, Anissa! Endlich war da irgendwas zwischen uns! Dann die letzten Wochen, die wir zusammen überstanden haben und jetzt, wo alles wieder gut wird, sagst du sowas zu mir!"
Nein, ich verstehe rein gar nichts, was sie gerade zu mir sagt und was sie versucht mir zu erklären oder zu vermitteln. Weil es keinen Sinn macht! Warum jetzt so plötzlich! Jetzt, wo alles wieder normal wird, wo wir hätten weitermachen könne, sagt sie zu mir, dass sie mich niemals wieder sprechen oder sehen will.
Chris: Es lief alles gerade so gut, Anissa! Ich dachte wirklich, dass wir beide...ich verstehe dich einfach nicht! Deine Entscheidung, deine Erklärungen, nichts! Ich weiß nicht, warum du das alles machst, was du damit bewirken willst!"

Der Satz, der vermutlich alles klären würde, kommt mir nicht über die Lippen. Ich sträube mich davor, es auszusprechen, wobei es raus will und raus muss, wenn es das letzte Mal ist, dass ich sie hören und sprechen werde. Warum bin ich hier gerade so aufgelöst, aber sie nicht? Warum ist für sie das nicht so nervenzerreißend?
Chris: Bitte, Anissa! Ich...wir beide...das zwischen uns...du bist mir unfassbar wichtig geworden, Anissa...ich...ich habe mich in dich...ich..."
Das Wort kommt mir nicht über die Lippen, stattdessen verstummt es in den ersten Tränen, die mein Gesicht wieder runterlaufen und in dem, was sie sagt.
Anissa: Ich dich auch...und deswegen musst du verstehen, dass es das Beste für dich ist, wenn wir beide uns nicht wiedersehen."

Dass es das Beste für mich ist? Ich kann nicht reagieren, lasse die Worte immer wieder durch meinen Kopf wandern und finde keine Erklärung dafür.
Anissa: Danke, Christian...mach es gut."
Ich sitze noch vor meinem Handy und brauche, bis ich reagieren kann. Bis ich die Worte und Gedanken sortiert habe, die in mir umherkreisen.
Chris: Anissa! Du kannst das nicht machen!"
Aber bevor sie das wohl hören würde, ertönt schon das Signal, dass der Gesprächspartner das Telefonat beendet hat.
Chris: Anissa!"
Ich höre das ständige Piepen auf meinem Handy, bevor ich dazu komme ebenfalls aufzulegen und mein Handy aufs Sofa zu werfen. Danach greifen meine Hände nach meinem Haar, während ich aufhöre im Zimmer rumzulaufen.
Chris: Anissa, warum!"

Tweety verlässt augenblicklich das Zimmer, da es ihm zu unruhig ist. Jetzt fallen meine Tränen auch zum Boden, während immer wieder die Worte von Anissa durch meinen Kopf gehen. Es ist das Beste für dich, wenn wir uns nicht wiedersehen. Warum Anissa...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now