Kapitel 109

22 5 0
                                    

Sicht von Anissa...

Auf meine Bettdecke wird wieder eine Stoffmaus gelegt. Dahinter sitzt Sylvester, der mich auffordernd anschaut. In den drei Wochen lag ich für seine Verhältnisse auch zu viel im Bett, wollte allein gelassen werden und am liebsten mit keinem Reden. Wie sollte man sich allerdings auch fühlen, wenn einem das gesamte Leben, alles, was mich sich in zehn Jahren aufgebaut hat, weggerissen wird?

Er ist der einzige Grund, warum ich mich aufsetze. Das mache ich nur, damit ich ihn streicheln kann, was er vermutlich auch bewirken wollte. Sylvester schmeißt sich auf die Seite und bringt mich daher zu einem sehr schwachen Schmunzeln. Sein Fell ist gerade nicht mehr so dick, wie im Winter. Jetzt sieht er deutlich schmaler aus. Als ich mit der Hand über seinen Kopf streiche, schaut er mich auch das erste Mal wieder an und kommt mit seiner Pfote selbst gegen die Maus, die er mir hergebracht hat. Daher lenkt er seine Aufmerksamkeit zu dieser, steht auf und springt mit dieser im Anschluss vom Bett runter.
Anissa: Du bist ein seltsamer Kater, Sylvester."
Zuerst schaue ich zu ihm auf den Boden, wie er die Maus hin und her schiebt, bevor er die wieder packt und aus dem Zimmer trägt. Kurzer Besuch meines Katers. Danach schaue ich auf den Radiowecker, der mir zeigt, dass es schon beinahe 19 Uhr ist. Wieder einen Tag rumbekommen, an dem ich nichts erlebt oder erledigt habe. Einfach nur von morgens bis abends den Tag aushalten.
Anissa: Mein Gott ist das alles ätzend."
Danach lasse ich mich wieder aufs Bett fallen und schaue wieder an die Zimmerdecke. An den Wänden sehe ich noch die Sonnenstrahlen, immerhin ist es Sommer, man könnte noch was draußen erleben und ich liege einsam in meinem Bett hier. Wie konnte es so weit kommen, dass ich mein Leben noch mehr hasse als sonst schon?

Genervt seufze ich und schlage meine Arme danach über meinen Kopf zusammen. Meine Tage bestehen nur aus diesem Zimmer hier. Mein Handy habe ich seit Wochen abgestellt, da ich einfach keine Nachrichten empfangen will oder von irgendwas mitbekommen möchte. Ich will meine Ruhe haben und ersticke in dieser gerade vollkommen. Ich dachte nicht, dass ich mal so hilflos hier liegen würde und keinen Plan mehr habe, was ich mit meinem verdammten Leben anfangen soll. Es interessiert auch keinen. Die einzigen Nachrichten, die ich immer bekam, kamen von "Freunden" die nur Infos vor allen anderen haben wollten. Keiner interessiert sich dafür, wie es mir in der Phase geht.

Vorsichtig wird an der offenen Tür zum Zimmer geklopft. Daher nehme ich meine Arme wieder runter und schaue dahin auf. Okay, es gibt ein paar Menschen, die es interessiert, wie es mir gerade geht und die alles versuchen, damit es mir wieder etwas besser gehen wird in absehbarer Zeit. Und dazu gehört natürlich meine Mom.
Anna: Ich hoffe, dass ich dich nicht störe, Süße."
Anissa: Alles gut, Mom. Sylvester hat mich vorhin schon abgelenkt, aber der wird vermutlich wieder raus in den Garten gelaufen sein, richtig?"
Anna: Er fühlt sich dort auch einfach viel zu wohl, habe ich das Gefühl."
Meine Mom und ich müssen lachen. Wir sind, nachdem wir alles gekündigt und abgesagt hatten, was irgendwie mit Tour, Plattenfirma und Manager zu tun hatten, in unsere Heimat gefahren. Jeder zu seiner Familie. Es hat einige Tage gedauert, bis wir uns zusammensetzen und in Ruhe miteinander reden konnten. Das war auch der erste Moment, wo es sich wieder richtig angefühlt hatte. Als würden vor mir meine beste Freunde aus der Schulzeit sitzen. Es ist ein Weg, bis alles wieder auch zwischen uns gut sein wird, aber immerhin fangen wir damit jetzt an.
Anna: Wir essen gleich zu Abend. Deine Schwester ist auch gekommen."
Anissa: Draußen im Garten? Hat Dad gegrillt?"
Sie nickt und ich sage ihr noch, dass ich dazukommen werde. Danach lässt sie mich auch wieder allein in meinem Zimmer.

Mein altes Kinderzimmer, wo ich damals anfing Musik zu machen. Wo ich mit den Jungs auch geprobt hatte. Irgendwie stecken hier noch sehr viele Erinnerungen drinnen, die ich in den letzten Jahren verdrängt habe, da andere Dinge so viel wichtiger geworden sind. Oder weil ich andere Dinge als so viel wichtiger angesehen habe. Wenn ich könnte, würde ich so viele Dinge anders machen. Aber dafür ist es schon zu spät.

Ich suche meine Motivation zusammen, damit ich aus meinem Bett aufstehe. Die Decke lasse ich hinter mir liegen und greife vom Stuhl einzig nach einer Jacke. Während ich mir diese überziehe, schließe ich für einen Moment wieder meine Augen. Es ist die Jacke von Chris, die ich mit hergenommen habe und die ich seit den drei Wochen immer dort hängen habe. Das einzige, was mir noch geblieben ist und was ich nicht zerstört habe.
Johanna: Wo ist meine kleine Schwester denn?!"
Die Schritte von Johanna nehme ich recht früh schon war und verlasse aus dem Grund mein Zimmer, damit ich in den Flur komme und die Treppe runterlaufen kann. Unten angekommen, werde ich auch gleich von ihr empfangen mit einer Umarmung.
Anissa: Hey, Jo."
Ich freue mich, dass ich meine Familie wieder um mich herum habe. Aber es wäre auch gelogen, würde ich behaupten, ich wäre gerade nicht gerne in Europa unterwegs. Heute wären wir in Spanien, aber es sollte alles anders kommen.
Johanna: Jetzt habe ich erstmal Wochenende. Also: Was steht bei uns beiden an?"
Anissa: Ach Johanna..."
Gerade lässt sie mich aus ihrer Umarmung, als ich von ihr wegschaue. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich ablenken will, aber irgendwie ist mir gar nicht danach. Ich hüte gerade sehr gerne mein Zimmer und das Bett, versuche Sylvester genug Beachtung zu schenken und immer wieder mit den Jungs zu reden. Aber ich weiß, dass das kein Leben ist.

Bevor ich Johanna dort stehenlassen kann, damit ich zu unseren Eltern in den Garten laufen könnte, greift meine Schwester nach meinem Arm und hält mich bei sich. Dabei schaue ich sie allerdings nicht an.
Johanna: Ich kann es nicht leiden, wenn es meiner kleinen Schwester so schlecht geht. Das alles setzt dir sehr zu."
Anissa: Alles gerade ein bisschen viel auf einmal..."
Johanna: Das glaube ich dir, Nanni. Aber nur zu Hause sitzen und nichts tun, bringt dich am Ende nicht weiter. Wie wäre es, wenn wir beide in der kommenden Woche mal nach Emden fahren. Nur du und ich, wie früher?"
Bei den Gedanken, dass wir mit 14 und 21 bereits zusammen dort waren, muss ich lächeln. Ehrlich und unbefangen, wie es in den letzten Tagen kaum der Fall war.
Anissa: Okay...das klingt sehr gut...danke Jo...

Two Sides of Our LifeWhere stories live. Discover now